Julia Zwick & Martin Hautzinger Interview – Dem Leben wieder Farbe geben
Depressionen sind gegenwärtiger Gegenstand der Gesellschaft. Vielleicht sind sie sogar als Symptom der Gegenwart zu verstehen. Vielleicht waren sie das schon immer, vergegenwärtigt man sich die von Depression betroffenen Menschen, die die Geschichtsschreibung überliefert hat. Depressionen sind zumindest soweit Gesellschaft und Gegenwart, als dass der Bedarf an Therapie, Therapieplätze übersteigt. Was tun, wenn Handeln in der Gegenwart aber nötig ist? Leidensdruck kennt schließlich keine Wartezeiten. Was kann getan werden um die Gesundheit zu begünstigen? Eine Möglichkeit stellt Selbsthilfe dar. Zu diesem Zweck haben Frau Dr. Julia Zwick und Herr Prof. Dr. Martin Hautzinger ein Selbsthilfebuch für von Depression Betroffene und deren Angehörige geschrieben, welches im Beltz Verlag veröffentlicht wurde.
Frau Dr. Julia Zwick und Herr Prof. Dr. Martin Hautzinger sind beide an der Universität Tübingen tätig. Dem Leben wieder Farbe geben – Aktiv werden, Denkmuster verändern, Depressionen überwinden – Ein Selbsthilfebuch für Betroffene und Angehörige ist das zweite Gemeinschaftswerk der beiden. Vorgänger-Veröffentlichung war Panik und Agoraphobie – Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Manual. Prof. Dr. Martin Hautzinger hat darüber hinaus noch weitere Kollaborations- sowie eigene Bücher im Katalog.
Vielfalltag: Was war Ihr Antrieb für die Erstellung von Dem Leben wieder Farbe geben?
Zwick & Hautzinger: Nachdem wir gemeinsam ein Buch zur Behandlung der Panikstörung und Agoraphobie beim Beltz Verlag fertiggestellt hatten, fragte dieser bei uns an, ob wir auch Interesse daran hätten, einen Ratgeber zum Thema Depression zu schreiben. Da die affektiven Störungen einen Schwerpunkt unserer Arbeit darstellen, war die Sache schnell entschieden!
Vielfalltag: Was denken Sie kann Ihr „Selbsthilfebuch für Betroffene und Angehörige“ leisten?
Zwick & Hautzinger: Das Buch liefert zum einen umfangreiche Informationen zum Thema Depression und räumt damit bei Betroffenen, aber auch bei Angehörigen mit möglichen Mythen und Falschwissen zu dieser Störung auf, z.B. dass sich Betroffene lediglich nicht so anstellen müssten, damit es ihnen besser geht. Gerade diese Einstellung finden wir heute in der Bevölkerung noch sehr oft vor! Gleichzeitig zeigt das Buch auf, dass man selbst etwas tun kann, Schritt für Schritt, um die depressive Störung zu überwinden, man ist ihr nicht hoffnungslos ausgeliefert. Das Buch lädt den Betroffenen mit vielen kleinen Übungen dazu ein, selbständig gegen die Depression anzukämpfen. Schließlich zeigt es aber auch die Grenzen der Selbsthilfe auf und gibt wertvolle Hinweise zu professionellen Behandlungsansätzen. Bei sehr starken Ausprägungen der Depression kann das Buch alleine nämlich nicht ausreichendes für den Betroffenen tun – hier ist zusätzliche professionelle Hilfe von Ärzten und Psychotherapeuten gefragt!
Vielfalltag: Nicht nur wir haben das Wort im Namen, im Buch taucht es auch wiederholt auf: Alltag. Welche Gedanken kommen Ihnen bei dem Wort Alltag? Und warum ist es für depressive Menschen so wichtig wie sie ihren Alltag gestalten?
Zwick & Hautzinger: Alltag kann positive und negative Assoziationen auslösen. Zum einen eine Form von Langeweile – „immer derselbe Trott“, zum anderen aber auch eine sichere Struktur und Stabilität, welche uns Kontrolle über unser Leben gibt. Wenn wir in der Lage sind, die kleinen Herausforderungen des Alltags zu bewältigen, wie morgens aufzustehen, der Körperpflege nachzugehen, regelmäßig zu essen, sinnvolle Aufgaben durchzuführen und soziale Kontakte wahrzunehmen, dann hat dies eine stabilisierende Wirkung auf unsere Stimmung, weshalb es gerade für depressive Patienten so wichtig ist! Wir haben das Gefühl unser Leben einigermaßen Im Griff zu haben, als im Vergleich dazu, wenn wir überhaupt keinen geregelten Alltag mehr aufweisen würden.
Vielfalltag: In Hinblick auf ein anderes Interview auf unserer Seite möchte ich Sie fragen: Wie würden Sie die Abgrenzung zwischen einer Depression und der Anpassungsstörung erklären? Ich frage auch deshalb, weil Sie bei der Diagnosestellung von Depressionen von häufig erschwerter Diagnosestellung schreiben.
Zwick & Hautzinger: Anpassungsstörungen mit depressiver Reaktion werden häufig infolge stressreicher Ereignisse vergeben, wenn das Vollbild einer depressiven Episode (noch) nicht erfüllt ist. Damit stellt eine Anpassungsstörung eine etwas schwächere Variante dar. Im Vergleich zur depressiven Episode muss es hierbei im Vorhinein aber zu einer entscheidenden Lebensveränderung oder einem belastenden Lebensereignis gekommen sein, infolge dessen eine „Anpassung“ nicht gelungen ist. Bei depressiven Episoden haben wir zwar auch häufig einen Auslöser, jedoch können depressive Einbrüche manchmal auch ganz unabhängig von äußeren Umständen auftreten.
Hinzu kommt, dass manche Patienten die Diagnose „Depression“ nicht akzeptieren können oder wollen und daher die Diagnose Anpassungsstörung (oder Burn-out) vergeben wird. Gründe liegen z.T. in der Berufswelt, der Karriereplanung.
Vielfalltag: Kann man bezogen auf die Aussage, dass es „viele verschiedene Erscheinungsformen“ von Depressionen gibt, sagen, dass es genauso viele Erscheinungsformen von Depressionen gibt, wie es Betroffene gibt?
Zwick & Hautzinger: Nicht ganz! Grundsätzlich gibt es einheitliche Kriterien, welche erfüllt sein müssen, um von einer depressiven Störung zu sprechen. Dazu kommen unterschiedliche Erscheinungsformen, z.B. ob man chronisch depressiv ist oder nur phasenweise oder ob man zusätzlich manische Episoden aufweist. Allerdings gibt es eben auch nicht nur „die eine Depression“ – innerhalb der einzelnen Störungskategorien gibt es Spielräume. So kann sich eine depressive Störung bei einem Mann ganz anders äußern als bei einer Frau. Nicht immer müssen Betroffene zusammengekauert in einer Ecke sitzen und den ganzen Tag weinen. Das Wissen darüber kann helfen, einen fraglichen Zustand bei sich selbst besser einzuschätzen.
Vielfalltag: „Viele Depressive sind sehr geschickt darin, sich selbst zu kritisieren, zu beschimpfen, sogar zu bestrafen“. Warum schreiben Sie da von Geschicklichkeit? Wie sieht diese Geschicklichkeit aus?
Zwick & Hautzinger: Geschickt im Sinne davon, dass es ihnen leichtfällt und es dadurch leider sehr häufig und oft auch automatisiert abläuft.
Vielfalltag: Im Buch grenzen Sie normale, von behandlungsbedürftiger Stimmungsschwankung ab und zeigen auf, was Trauer und Burn-out im Vergleich zur Depression ausmacht. Wie lässt sich das bei Gleichgültigkeit machen? Wie zeigt sich Gleichgültigkeit bei depressiven Menschen, im Vergleich zu Gleichgültigkeit bei nicht depressiven Menschen? Gleichgültigkeit kann ja durchaus auch gesunde Abgrenzung sein, oder?
Zwick & Hautzinger: Der Unterschied zwischen „gesunder“ und „depressiver Gleichgültigkeit“ besteht in der Regel darin, dass sich die Gleichgültigkeit bei depressiven Personen meist auf Bereiche bezieht, die sie grundsätzlich, also außerhalb ihrer Phasen oder vor ihrer Erkrankung, interessiert haben und ihnen somit alles andere als gleichgültig waren. Zum Beispiel empfinden sie Gleichgültigkeit gegenüber ihrem eigentlich heiß geliebten Hobby oder ihrem eigentlich Freude bringenden Beruf, manchmal sogar gegenüber ihrem Partner und ihren Kindern. Das Interesse kommt dann auch in aller Regel wieder zurück, wenn die Depression überwunden ist. Bei gesunden Menschen tritt Gleichgültigkeit vielleicht eher in Bezug auf Dinge auf, die von Anfang an für denjenigen nicht so interessant waren. Oder es handelt sich um einen deutlich längeren Prozess, in dem sich Gleichgültigkeit einstellt, z.B. nach Jahren der Trennung gegenüber einem Ex-Partner.
Vielfalltag: Warum ist der Umstand, dass Rückfälle bei Depressionen die Regel sind, kein Grund zur Resignation?
Zwick & Hautzinger: Depressive Rückfälle sind frustrierend, gehören aber leider zur Natur dieser Erkrankung. Jeder Rückfall bietet letztendlich jedoch die Möglichkeit, eine neue Lernerfahrung aus seiner Erkrankung zu ziehen: was schwächt mich, was ist in der Lage bei mir persönlich depressive Episoden auszulösen, woran kann ich diese möglichst früh erkennen und wie kann ich möglichst schnell, etwas dagegen unternehmen, damit ich nicht mehr ganz so tief falle? Wie kann ich künftig anders mit Stress umgehen, so dass es vielleicht gar nicht mehr so häufig zu einem Rückfall kommt? Sie sehen – es besteht kein Grund zur Resignation, man kann dennoch viel tun und beeinflussen! Gleichzeitig kann es sehr entlastend sein, sich klar zu machen, dass Rückfälle nun mal dazu gehören. Ich kann als Betroffener vieles beeinflussen, aber es liegt nicht alles in meiner Hand.
Vielfalltag: Eine Begrifflichkeit über die ich mir so meine Gedanken gemacht habe ist die der „therapieresistenten Depression“. Wie kann man sich eine solche Depression vorstellen?
Zwick & Hautzinger: Von einer therapieresistenten Depression sprechen wir, wenn weder eine medikamentöse Therapie mit mindestens zwei Behandlungsversuchen (Antidepressiva aus verschiedenen Wirkstoffklassen), noch eine evidenzbasierte Psychotherapie zu einer befriedigenden Verbesserung der Symptomatik geführt haben. Dies sind sehr hartnäckige Erscheinungsformen der Depression, bei denen oftmals neurophysiologische Prozesse eine verstärkte Rolle spielen. Entsprechend können hier somatische Verfahren, wie die Elektrokrampftherapie helfen, Verbesserungen zu erzielen.
Vielfalltag: Trefflich erscheint mir Ihre Formulierung der „Depression als Endstrecke einer längeren Entwicklung“. Um bei der Wortwahl zu bleiben, was ist kennzeichnend für den Hinweg? Was sollte nach der Endstrecke bestenfalls folgen?
Zwick & Hautzinger: Wir gehen davon aus, dass auf dem „Hinweg“ mehrere Faktoren zusammentreffen müssen. So startet der Weg mit einer gewissen Anfälligkeit für Depressionen, die zum Beispiel durch genetische Vorbelastungen, frühe Verlusterlebnisse oder chronische Überlastung entsteht. Diese schwächenden Hintergrundfaktoren führen zu Veränderungen und Störungen im Hirnstoffwechsel und der Stressachse. Treten dann noch zusätzliche Belastungen im Verlauf des Weges auf, die entsprechend der Vorbelastungen nicht hinreichend reguliert werden können, kommt es zur „Depression als Endstrecke einer längeren Entwicklung.“ Bestenfalls erkennt der Betroffene dann recht schnell, worunter er leidet und ist dann noch in der Lage sich z.B. anhand unseres Ratgebers zur Selbsthilfe selbständig auf einen neuen Weg zu begeben. Ist dies nicht mehr möglich, sollten professionelle Hilfestellungen am Ende des Weges aufgegriffen werden, also Pharmako- oder Psychotherapie, die dem Betroffenen den Weg aus der Depression heraus aufzeigen.
Vielfalltag: Eine Teilüberschrift im Buch lautet „Über Aktivierung raus aus der Depression“. Warum ist es für depressive Menschen wenig lohnend darauf zu warten, dass sich die Lust auf Aktivität von selbst einstellt? Was kann man Betroffenen entgegnen, die sich vermeintlich im Zurückziehen wohlfühlen?
Zwick & Hautzinger: Die Antwort lässt sich über ein Teufelskreis-Modell aufzeigen: zieht sich ein depressiver Mensch infolge eines zunehmend schwindenden Antriebes und immer größeren Unlustempfindens zurück, kommt er auch nicht mehr in die Lage, positive Erfahrungen zu machen – wir sagen dazu „Verstärkerverlust“. Dies wiederum wirkt sich negativ auf die sowieso schon schlechte Stimmung aus, so dass diese noch schlechter wird und der Antrieb weiter abnimmt. Es ist also unwahrscheinlich, dass sich in diesem Zustand Lust von alleine wieder einstellt – im Gegenteil: die Unlust wird immer größer!
Es gibt sicher Betroffene, für die der Rückzug zunächst etwas sehr positives hat – sie entziehen sich von der Außenwelt und deren Erwartungen an sie. Kurzfristig ist der Effekt eines Rückzuges also sicherlich erst einmal positiv und entlastend. Gleichzeitig bemerken die meisten Betroffenen jedoch, dass ihre Stimmung dadurch mittel- und langfristig negativ bleibt. Daher würden wir diese Betroffenen dazu einladen, einmal zu experimentieren. Welchen Effekt hat es, sich langsam wieder zu aktivieren, gezielt positive Dinge zu unternehmen und Aufgaben Schritt für Schritt wieder anzugehen. Die meisten bemerken dann eine Verbesserung ihrer Stimmung.
Empirisch ist „Verhaltensaktivierung“ eines der wirksamsten Interventionselemente, insbesondere zu Beginn einer Therapie und bei schweren Depressionen. Damit soll die Depressionsspirale umgedreht und ein Weg aus der Niedergeschlagenheit aufgezeigt werden.
Vielfalltag: In Bezug auf Abgrenzung schreiben Sie, dass es durchaus in Ordnung ist sich bei schlechtem Gewissen abzulenken. Ist Ablenken nicht nah am Verdrängen und somit eher ungünstig?
Zwick & Hautzinger: In diesem Fall würden wir nicht von Verdrängen sprechen. Der Betroffene sollte sich dessen bewusst sein, dass das ungute Gefühl, das sich infolge einer Abgrenzung meldet, ein schlechtes Gewissen darstellt. Sich in der Folge abzulenken wäre daher keine Verdrängung (er hat sich dann ja bereits damit auseinandergesetzt, woher das schlechte Gefühl kommt), sondern eine angemessene Reaktion, das schlechte Gewissen auszuhalten und ihm nicht nachzugeben.
Vielfalltag: Wenn es nun so ist, dass die Schwermut depressiver Menschen „geradezu ansteckend“ auf Angehörige oder Freunde wirkt, was können depressive Menschen tun, um die Situation nicht zu erschweren? Können sie innerhalb depressiver Episoden überhaupt etwas tun oder ist hier einzig und allein das Verständnis der Angehörigen und Freunde gefragt?
Zwick & Hautzinger: Zum einen ist das Wissen über den ansteckenden Effekt einer Schwermut dafür wichtig, dass Angehörige und Freunde sich selbst während einer Erkrankungsphase nicht aus den Augen verlieren. Gerade weil sich die Schwermut des Betroffenen auf seine Angehörigen übertragen kann, ist es wichtig als Angehöriger genügend positiven Ausgleich für sich zu schaffen. Es geht hier also nicht (nur) um Verständnis, sondern um aktives für sich Sorgen.
Aber auch Betroffene selbst können innerhalb ihrer depressiven Phasen etwas tun. Zumindest im Verlauf der Behandlung mit zunehmend gebesserter Stimmung können sie versuchen, ihren meist typisch depressiven Kommunikationsstil (z.B. einsilbige Antworten, keine Fragen an das Gegenüber, kaum Blickkontakt) in Richtung eines nicht-depressiven Kommunikationsstil (Interesse am Gegenüber zeigen und Fragen stellen, zugewandt sein, Blickkontakt halten etc.) zu verändern. Damit verschwindet dann meist auch der ansteckende Effekt einer Schwermut.
Vielfalltag: „Unbehandelt führen depressive Störungen bei den Betroffenen auch zu einer vielseitigen psychosozialen Beeinträchtigung in ihren Rollen als Partner, Familienmitglied, Freund und Berufstätiger. So haben depressive Menschen weniger enge Beziehungen und befriedigende soziale Interaktionen und sind an weniger sozialen Aktivitäten beteiligt als Gesunde“. Was, außer sich in Behandlung zu begeben, können depressive Menschen noch tun um psychosozialen Problemlagen entgegenzuwirken?
Zwick & Hautzinger: Letztendlich basieren, wie auch andere Fähigkeiten, unsere sozialen Fertigkeiten auf Übung. Das bedeutet, dass ich diese dadurch trainieren kann, indem ich mich möglichst vielen sozialen Situationen aussetze, Erfahrungen sammle und anhand meiner Erfahrungen mein Verhalten anpasse und somit meine sozialen Fertigkeiten verbessere – das geht auch ohne Therapie. Manchmal hilft es dabei aber, einen neutralen Blick von außen auf die Situation zu erhalten.
Vielfalltag: Sie schreiben: „Unser Selbstwert ist empfänglich für Lob und benötigt dies tatsächlich auch für eine gesunde Entwicklung“. Frau Dr. Zwick, was ist lobenswert an Herrn Prof. Dr. Hautzinger? Herr Prof. Dr. Hautzinger, was ist lobenswert an Fr. Dr. Zwick?
Zwick: An Herrn Prof. Dr. Hautzinger ist lobenswert, dass er mit viel Ruhe, Gelassenheit und Erfahrung stets souverän die Dinge anpackt und er trotz seines Erfolges bescheiden geblieben ist.
Hautzinger: Frau Dr. Zwick ist höchst kompetent, zuverlässig, gut organisiert, sozial geschickt, hilfsbereit, kann sich abgrenzen, kennt ihren Wert und ihre Grenzen. Sie ist nicht nur als Mitarbeiterin, sondern auch als Klinikerin und Therapeutin einfach gut! Ohne sie wäre das Buch nie entstanden.