Sibylle Tobler - Interview

Gewollt und ungewollt sind Veränderungen Teil des Lebens und so gibt es sie in allen Variationen.
Sichtbar wird es am eigenen Körper, spürbar durch Prozesse im Freundes- und Bekanntenkreis. Aber auch Umzüge, umgestellte Ernährung oder Das Denken, das Wohnen, die Verantwortung – alles unterliegt der Veränderung. Ebenso variationsreich wie Veränderungen an sich, sind die Haltungen die gegenüber Veränderungen eingenommen werden können. Von endlich verändert sich was bis hin zu hoffentlich bleibt alles so wie es ist, ist eine Bandbreite gegeben. Veränderungen können also Spaß machen und Antrieb geben, Veränderungen können aber auch einschüchtern und überfordern. Dr. Sibylle Tobler ist Expertin für Veränderungskompetenz und Autorin zweier Bücher. Diese heißen „Neuanfänge – Veränderung wagen und gewinnen“ und „Die Kunst, über den eigenen Schatten zu springen oder wie Sie Schwierigkeiten bei Neuanfängen meistern“. Beide sind im Verlag Klett-Cotta erschienen. Da sich eh alles stets und ständig verändert, ist es also stets und ständig an der Zeit Dr. Sibylle Tobler einige Fragen zu stellen um sich mit Veränderungen auseinanderzusetzen. Oder unterliegen wir der Veränderung bloß und sind ihr ausgeliefert?
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Vielfalltag: Sie schreiben von hilfreichen Perspektiven die einem entsprechen sollen und von Aktivitäten, bei denen es wie von selbst läuft, um Neuanfänge zu gestalten. Mal angenommen ein*e Klient*in von Ihnen hat ihre eigenen Perspektiven entwickelt und kennt Aktivitäten von sich, bei denen es wie von selbst läuft, kommt jedoch nicht ins Handeln. Wie würden Sie mit ihr/ihm weiterarbeiten?

Tobler: Erlauben Sie mir, erst beim Thema „Perspektiven“ zu bleiben. Ich habe dazu den Begriff „motivierender Horizont“ geschaffen (mehr dazu in meinem Buch „Neuanfänge – Veränderung wagen und gewinnen“). In Veränderungssituationen ist es essenziell, dass man (neue) Perspektiven entwickelt, die es sinnvoll machen, aktiv zu werden. Anders wird man kaum die Energie aufbringen, die es immer braucht, Veränderung anzugehen. Wer steht schon früh auf, wenn es nichts gibt, wozu sich das lohnt?

Nun zu Ihrer Frage mit dem Klienten, der nicht ins Handeln kommt. Grob gesehen, kann es drei Gründe geben: Es kann reale Hindernisse geben, die das In-Gang-Kommen erschweren. Der Klient mobilisiert zu wenig Entschlossenheit und Mut, Regie zu übernehmen und „Nägel mit Köpfen“ zu machen, also ins Handeln zu kommen. Oder er hat nicht wirklich einen motivierenden Horizont entwickelt. Das gilt es, herauszufinden.

In einer solchen Situation kläre ich also mit dem Klienten, was ihn davon abhält, ins Handeln zu kommen. Es kann gute und reale Gründe geben, die das Handeln erschweren, etwa zu wenig konkrete Vorstellungen von Handlungsmöglichkeiten, zu große Schritte, fehlende Informationen, es kann sich um ein real sehr anspruchsvolles Ziel handeln, das nur mit langem Atem erreicht werden kann und daher erst mal mutlos machen kann usw. Es kann auch sein, dass Anschauungsweisen, Überzeugungen, Gefühle oder Alibis vom Handeln abhalten, etwa: „Man darf doch nicht einfach machen, was einem Freude macht“, „Das geht in meiner Situation nicht“, „Ich habe Angst vor Reaktionen im sozialen Umfeld“, „Ich habe keine Zeit, jetzt aktiv zu werden“. Möglicherweise fehlt das Commitment – es ist dieser Person letztlich zu wenig wichtig, Veränderung umzusetzen. Vielleicht hat diese Person auch Perspektiven entwickelt, von der sie sich Erfolg oder soziale Anerkennung erhofft, die ihr aber nicht wirklich entsprechen. Eine Exploration wird deutlich machen „wo der Hase im Pfeffer liegt“. Auf dieser Basis können dann passende Schritte eingeleitet werden – immer unter der Voraussetzung, dass der Klient sich darauf einlässt.

Vielfalltag: Wie können Menschen, die in ihre Lebensgestaltung hineingerutscht sind zu Glaubhaftigkeit, auch sich selbst gegenüber, (zurück) gelangen?

Tobler: Zuallererst, indem sie die Bereitschaft aufbringen, „genau hinzuschauen“ wie ich dies nenne: Die Bereitschaft, zu sehen, was ist und zu klären, ob die Lebenssituation alles in allem ok ist oder ob der Wunsch da ist, dass sich Dinge ändern. Das erfordert Ehrlichkeit und Mut. Es kann konfrontierend sein. Doch „genau hinschauen“ ist die Basis, um das Leben in die Hand nehmen und auf eine Weise gestalten zu können, hinter der man steht.

Vielfalltag: Nach Ihnen ist es möglich, dass über wahre Freude, Schlüsse darüber gezogen werden können, wie eine Neuausrichtung aussehen kann. Wodurch unterscheidet sich wahre von unwahrer Freude?

Tobler: Ich benütze den Begriff „sich wirklich über etwas freuen können“ bzw. „sich echt freuen können“.

An dieser Stelle in meinem Buch „Die Kunst, über den eigenen Schatten zu springen oder wie Sie Schwierigkeiten bei Neuanfängen meistern“ geht es um Situationen, in denen Menschen keine Idee haben, was sie wirklich wollen und können. Wo es keinen motivierenden Horizont zu geben scheint.

Es kann immer Situationen geben, in denen man nicht weiß, wie und wohin weiter. Wenn Ereignisse bisherige Perspektiven unsicher gemacht oder zerstört haben, muss man sich erst einmal auf die neue Situation einstellen. Etwa, wenn man den Job verliert. Oder wenn die Partnerin die Beziehung beenden will. Viele Menschen nehmen sich dann die nötige Zeit, rappeln sich danach wieder auf und gestalten das Leben neu.

Doch vielen Menschen gelingt dies nicht ohne Weiteres; auch in weniger einschneidenden Situationen bleiben sie ratlos, was sie wollen. Letztlich liegt dies häufig daran, den Zugang zu sich selbst verloren zu haben, zu eigenen Interessen, Fähigkeiten, Talenten, Stärken, zu dem, was der eigenen Person im Kern entspricht.

In solchen Situationen macht es wenig Sinn bzw. ist kontraproduktiv, künstlich Ziele erzwingen zu wollen („Jetzt sagen Sie doch mal, was Sie wollen“).

Doch glücklicherweise können auch hier – sozusagen über einen Umweg – motivierende Perspektiven entwickelt werden: Durch das Erkunden, was beste / glücklichste Phasen waren im Leben, welche Tätigkeiten interessieren, Freude machen, leicht von der Hand gehen, die Zeit vergessen lassen und zu Resultaten führen, über die man sich wirklich freuen kann. Mit solchen Fragen lässt sich erschließen, was einer Person wirklich entspricht, was sie wirklich motiviert. Und von da aus lässt sich ableiten, was das heißen könnte in Bezug aufs Weitergehen. Es geht dabei nicht darum, dass man nur tun sollte, was einem Spaß macht. Es geht vielmehr darum, auf die Spur zu kommen, was einer Person wirklich entspricht, die das selbst nicht (mehr) weiß.

Freude ist nicht nur ein Indiz, in Kontakt zu sein mit sich selbst. Sie ist auch ein wichtiger Motor in Veränderungsprozessen. Wer Perspektiven oder Ziele verfolgt, die nicht mit positiven Emotionen verbunden sind, muss mehr Willensanstrengung aufbringen, um in Gang zu kommen und zu bleiben. Auf Dauer ist dies nicht nur anstrengend oder gar erschöpfend, sondern oft auch ein Grund, gut Begonnenes abzubrechen. Oder gar nicht erst anzufangen.

Foto Sibylle Tobler cropped

Vielfalltag: Wiederholt empfehlen Sie das Psychologisieren in Veränderungssituationen zu unterlassen. Wie kann aber die von Ihnen stattdessen erwünschte Nüchternheit bei solch sensiblen Themen, wie es Neuanfänge nun mal sind, überhaupt gelingen?

Tobler: In Veränderungssituationen dreht letztlich alles darum: Wie komme ich hier in eine gute Richtung in Gang? Dies erfordert u.a., Klarheit zu gewinnen über die Ausgangslage.

Was häufig passiert: Menschen verlieren sich in mentalen Schlaufen, im endlosen Analysieren und Grübeln, im Hängenbleiben bei vergangenen Erfahrungen. Natürlich gehört zum „genau hinschauen“, zu erkunden, wie man in Situation gekommen ist, was dabei eine Rolle gespielt hat, wie man selbst dazu beigetragen hat. Doch häufig bleiben Menschen dabei hängen. Was nicht selten zum eigentlichen Problem wird und vom Handeln abhält.

Was verstehe ich unter „nüchtern hinschauen“? Ich meine damit, zu beobachten, zu beschreiben, was alles in einer Situation spielt. Sozusagen „Daten sammeln“. In der Praxis erfahre ich, dass Klienten genau das als hilfreich erfahren. Statt sich im Dschungel von Gefühlen, Interpretationen zu verlieren, schafft man Klarheit. Einfach einmal benennen, was los ist. Nicht werten, Schuld(ige) suchen, Berge sehen. Sondern beobachten, benennen. Das schafft Distanz, ermöglicht Überblick und lässt Prioritäten in den Blick kommen.

Wie „Nüchternheit“ gelingt? Indem man versteht, dass es nützlich ist, zu sehen und zu benennen, was jetzt ist, um in der Folge auf gute Weise Schritte einleiten zu können. Und indem man übt, auf diese Weise eine Situation unter die Lupe zu nehmen.

Um Missverständnisse zu vermeiden: „Nüchternes“ Hinschauen beinhaltet nicht nur, Fakten auf den Tisch zu bekommen. Es beinhaltet auch und gerade, zu beobachten, welche Sicht- und Denkweisen, Haltung, Gefühle im Spiel sind und wie sich diese auswirken. Dies mit dem Ziel, gegebenenfalls zu schauen, wie man damit umgehen kann ohne sich blockieren zu lassen.

Vielfalltag: Durch Ihre Praxiserfahrung haben Sie unzählige Veränderungen begleitet. Können Sie verraten wie Situationen aussehen, bei denen auch Sie erstmal überlegen müssen welches Vorgehen sich lohnt?

Tobler: Begleitung von Menschen in Veränderungssituationen ist immer Teamarbeit – gute Vorgehensweisen können nur gemeinsam entwickelt werden. Der Klient oder die Klientin muss sich auf den Prozess einlassen. Ich kann dies anregen – aber nicht erzwingen.

Zwei Situationen sind für mich besonders anspruchsvoll. Die eine: Ein Klient macht alles richtig, z.B. bei der Jobsuche. Und doch lässt das erwünschte Resultat auf sich warten. Da ist naives Wunschdenken oder die Anregung „eben positiv zu denken“ fatal. In solchen Situationen ist es wichtig, erneut genau hinzuschauen, zu überprüfen, ob etwas anders/besser gemacht werden kann und – wenn das nicht der Fall ist – zu schauen, wie auf passende Weise authentisch vorgegangen werden kann: Einen Plan B finden oder Strategien zum Durchhalten und Dranbleiben entwickeln. Die andere Situation: Klienten, die sich nicht auf einen Veränderungsprozess, auf neue, andere Schritte einlassen. Meist, weil sie Sicht- und Denkweisen pflegen, die das verhindern, etwa die Überzeugung, Opfer von Umständen zu sein oder das Verharren bei einem „Das ist in meiner Situation unmöglich“. In solchen Situationen bleibt nichts anderes als anzusprechen und zu erklären, dass und warum man nicht vorwärtskommen kann, wenn man bei solchen Sicht- und Denkweisen bleibt. Viele Menschen sind sich nicht bewusst, dass sie Haltungen pflegen, die Veränderung im Keim verunmöglichen. Nicht immer gelingt es, ein „Aha-Erlebnis“ und in der Folge einen positiven Prozess zu ermöglichen. Dann bleibt nur, die Zusammenarbeit zu beenden. Es ist besser, klar zu sein als nett. Nicht selten bewirkt gerade das, dass etwas in Gang kommt.

Vielfalltag: Sie schreiben in Ihrer Danksagung zu dem Buch von Menschen, die Ihnen mir ihrer „Art, mit Veränderung umzugehen, auffallen“. Wer ist Ihnen diesbezüglich zuletzt aufgefallen und hat Sie, im Umgang mit Veränderungen, positiv überrascht und womit bzw. wodurch?

Tobler: Schöne Frage! Ich denke spontan an eine Laufbahnberaterin, die mich kürzlich im Rahmen einer Supervision fragte, wie sie mit einer Klientin umgehen solle, die ihr Leben lang von der Sozialhilfe gelebt hat, in die Beratung kam, um „ihre Berufung“ zu finden und erklärte „Wissen Sie , unter uns gesagt, könnte ich sofort eine Stelle an der Kasse in einem Supermarkt finden – aber ich will lieber über das Sozialamt eine Ausbildung bezahlt bekommen“. Ich ermutigte die Laufbahnberaterin, ihre Klientin mit dieser Haltung zu konfrontieren – freundlich und wohlwollend, aber klar. Und mit ihr Konsequenzen durchzudenken und zu einer eigenverantwortlichen Entscheidung zu kommen. Und was passierte? Die Klientin kam ins nächste Gespräch und sagte: „Ich habe mir das alles nochmals überlegt, ich glaube, es ist doch am besten, wenn ich eine Stelle an der Kasse suche und von dort aus meine berufliche Entwicklung angehe“. Die Beraterin hat die Erfahrung gemacht, dass die Konfrontation mit beeinträchtigenden Haltungen sehr viel bewirken kann. Und – wie sie mir letzte Woche erzählte – die Frau hat inzwischen tatsächlich eine Stelle an der Kasse in einem Supermarkt. So haben beide eine positive Veränderung gewagt und dabei Erfolgserlebnisse erzielt.

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Weitere Informationen zum Buch auf der Verlagsseite von Klett-Cotta

 

Website Dr. Sibylle Tobler, Begleitung in Veränderung: http://www.sibylletobler.com/

Es fragte: Henry Berner