ANPASSUNGSSTÖRUNG UND LEBENSKRISE - INTERVIEW MIT BIRGIT HOFMANN UND NICOLAS HOFFMANN

Eine Folgeerscheinung der Anpassungsstörung ist die Unzulänglichkeit, den eigenen Alltag zu gestalten. Wo der Alltag schwer handhabbar wird, tun sich bei Vielfalltag Fragen auf, die beantwortet werden wollen.
Anlass genug, sich der Diagnose wissenschaftlich zu nähern und Dr. rer. nat. Birgit Hofmann und Dr. phil. Nicolas Hoffmann zu befragen. Beide veröffentlichten ihr Gemeinschaftswerk „Anpassungsstörung und Lebenskrise – Material für Therapie, Beratung und Selbsthilfe“ (Beltz Verlag), welches 2017 in der zweiten, aktualisierten Auflage erschienen ist.
Anpassungsstörung und Lebenskrise Vielfalltag Cover

Vielfalltag: Das Buch ist die zweite, aktualisierte Auflage der 2008 erschienenen Erstausgabe. Wer von Ihnen hat welchen Anteil an dem Werk?

Hofmann & Hoffmann: Alle unsere Bücher sind Gemeinschaftsarbeiten, sowohl von der Konzeption als auch von der Ausführung her.

Vielfalltag:  Im Buch ist die Rede von der Anpassungsstörung als „Verlegenheitsdiagnose“ bzw. „Restkategorie“. Was ist eine Verlegenheitsdiagnose bzw. Restkategorie, und warum zählt die Anpassungsstörung darunter?

Hofmann & Hoffmann: Da die Kriterien der Diagnose einer Anpassungsstörung nicht so klar formuliert sind wie die vieler anderer psychischer Erkrankungen (z.B. Panik, Depression usw.) wird die Anpassungsstörung oft dann diagnostiziert, wenn das Zustandsbild des Kranken nicht einhundertprozentig in eine der anderen Kategorien hineinpasst.

Vielfalltag:  Die Diagnose Anpassungsstörung ist meiner Meinung nach in der öffentlichen Wahrnehmung nicht gegenwärtig. Der Begriff der Krise fällt da öfter. Täuscht mein Eindruck? Finden Sie, dass der Diagnose zu wenig Aufmerksamkeit zu Teil wird?

Hofmann & Hoffmann: Beide Ausdrücke sind die Kehrseiten derselben Medaille: aus seiner Sichtweise heraus befindet sich der Betroffene in einer Lebenskrise. Aus der Sicht der Beobachter heraus leidet er an einer Anpassungsstörung, d.h. er hat Schwierigkeiten, Neues in seinem Leben zu verarbeiten und ein angemessenes Gleichgewicht zu schaffen.

Vielfalltag: Ihr Buch zielt darauf ab Menschen zu helfen, die es mit einer Anpassungsstörung zu tun haben. Das tun Sie, indem Sie Material für Therapie, Beratung und Selbsthilfe bereitstellen. Gibt es auch präventive Maßnahmen die ergriffen werden können, um so gar nicht erst in eine Anpassungsstörung zu steuern? Oder gehört es schlicht zum Menschsein dazu, Krisenerfahrungen zu durchleben?

Hofmann & Hoffmann: Es gehört zum menschlichen Leben dazu, Verluste, Niederlagen und negative Veränderungen verarbeiten zu müssen. Die rechtzeitige Erkennung und Behandlung einer Anpassungsstörung stellen wichtige präventive Maßnahmen zur Verhinderung gravierender Störungen wie Depressionen und Angsterkrankungen dar.

Vielfalltag: Sie schreiben „Lebenskrisen, ihr Verlauf und ihre erfolgreiche Bewältigung verlaufen meist nach einem bestimmten Muster“. Haben sich die Umstände für Anpassungsstörungen, bzw. deren Zustände, seit Sie sich damit beschäftigen, denn gar nicht geändert? Ist es denn immer gleich oder ähnlich?

Hofmann & Hoffmann: Die einzelnen Muster treten immer wieder auf und scheinen insofern „Klassiker“ des menschlichen Daseins zu repräsentieren.

Foto Birgit Hofmann Vielfalltag

Vielfalltag:  Menschen mit Anpassungsstörung sehen sich zum Teil mit der Herausforderung konfrontiert, mit „unrealistisch gewordenen Zielen“ zu brechen. Woran können Menschen denn spüren, wann etwas unrealistisch ist?

Hofmann & Hoffmann: Darin, dass sie bei der Verfolgung ihrer Ziele nicht nur zu keinem Erfolg kommen, sondern festsitzen, auf der Stelle treten und sich in zunehmenden Maße überfordert und unglücklich fühlen.

Vielfalltag:  Sie schreiben, dass Menschen mit Anpassungsstörung mitunter schmerzhafte Verzichte machen müssen. Was sind Beispiele dafür? Sie schreiben außerdem „Der bewusste Verzicht ist eine der höchsten Leistungen, zu denen der Mensch fähig ist. Er erkennt die Wirklichkeit an und damit seine Grenzen. Daran ist überhaupt nichts Erniedrigendes“. Was könnte denn am Verzichten erniedrigend sein? Mir will nicht wirklich etwas einfallen.

Hofmann & Hoffmann: Wer auf etwas verzichtet, muss auch immer anerkennen, dass er sich übernommen und seine Möglichkeiten falsch eingeschätzt hat. Er konnte das nicht erreichen, wovon er lange geträumt hat und von dem er evtl. den Dreh- und Angelpunkt seines Lebens gemacht hat. Eine solche Einsicht wird auch immer als bittere Niederlage empfunden.

Vielfalltag:  Im Buch taucht öfters die Begrifflichkeit „mentale Spannkraft“ auf. Was ist damit gemeint, und wie steht sie im Zusammenhang zur Anpassungsstörung?

Hofmann & Hoffmann: Nicht selten befinden sich Menschen nach Überforderungserlebnissen oder großen Misserfolgen in einem psychisch geschwächten Zustand, in dem Konzentrieren, Denken, Entscheiden immer weniger möglich wird. Sie machen sich kein Überblick über ihre Lage, tauchen innerlich regelrecht ab (als wenn die innere „geistige Regierung“ abgeschaltet wird). Die Mentale Spannkraft ist dann gering. Um sie wieder zu stärken, müssen Betroffene lernen sich geistig zu kräftigen indem sie systematisch lernen sich der Situation zu stellen, ihren energetisierenden Willen zu aktivieren, sich zu orientieren, Handlungspläne wiederaufzubauen und den Mut zu fassen sie umzusetzen.

Vielfalltag:  In Ihrem Werk formulieren Sie eine Frage, von der Sie meinen, sie stelle eine Standardsituation dar, mit der sich Therapeuten/Therapeutinnen gehäuft konfrontiert sehen: „Wie bringe ich jemand dazu, unabhängiger von seiner Vergangenheit zu werden und wieder neue Lebensperspektiven aufzubauen?“. Warum ist diese Unabhängigkeit so notwendig?

Hofmann & Hoffmann: Manchmal haben bestimmte Sachen, Tätigkeiten aber auch alte soziale Kontakte ihre Funktion verloren oder erweisen sich geradezu als blockierend für neue Entwicklungen. Hat man nun den Mut und verabschiedet sich bspw. von einem langjährig sehr vertrauten aber letztlich doch sehr energiezehrenden Menschen, der vielleicht sehr vereinnahmend, ständig kritisierend und fordernd ist, so wird man frei für neue Begegnungen, die den eigenen Bedürfnissen besser entsprechen, und damit erfüllender sind. Das erfordert einen klaren, mutigen und sachlich-unabhängigen Blick auf sich und die eigene Situation.

Vielfalltag:  Einer meiner Lieblingssätze aus Ihrer Publikation ist: „Wie jeder andere Mensch auch sind Sie unvollkommen und daher entschuldbar“. Kann so zu denken dabei helfen etwas von dem, oft selbstauferlegten, Druck zu nehmen?

Hofmann & Hoffmann: Viele Krisen entstehen durch eine Haltung sich selbst gegenüber, die extrem anspruchsvoll ist: „Ich darf keine Fehler machen, alles muss perfekt sein“. Perfektion kann kein Ziel sein, da es immer noch „Perfekteres gibt“. Ein solches Leben drückt, erschöpft und ist einfach kaum möglich. Auch wollen die wenigsten Menschen mit „Perfektionisten“ zusammenleben oder -arbeiten.  Unser Wunsch ist es angenommen zu werden als Mensch in seiner Unvollkommenheit, Schwäche, Schwankung und Fehlerhaftigkeit. Stehen wir selbst dazu, können wir uns selbst „entschulden“, trösten und Halt geben, so führt das zu innerer Ruhe, Kraft und Geschmeidigkeit.

Vielfalltag: Betroffene sehen sich mit einer Reihe von Emotionen konfrontiert die als unangenehm empfunden werden. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, ist das Durchstehen von Trauer, Angst oder Wut alternativlos. Warum ist es nicht hilfreich Gefühle abzuwehren? Worin liegt der Unterschied zwischen Abwehrmechanismen und Mitteln zur Bewältigung?

Hofmann & Hoffmann: Abwehrmechanismen sind sehr wichtig. Zum Beispiel ist es vermutlich nicht gut, über einen großen Verlust überall und immer zu weinen und traurig zu sein. Die Abwehr hilft uns somit den Alltag trotzdem bewältigen zu können. Wird aber das Gefühl ständig unterdrückt, so können sich andere Symptome entwickeln wie bspw. körperliche Dauerverspannungen oder Schmerzen usw. Daher ist es günstig das Gefühl zu kanalisieren, also sich ihm zu bestimmten Zeiten zu stellen, z.B. 20 min Trauerarbeit am Tag. So kann sich das Gefühl ausdrücken und innerlich integriert werden.

Nicolas Hoffmann Anpassungsstörung und Lebenskrise Vielfalltag Hoffmann und Hofmann

Vielfalltag: Eine unliebsame Begleiterscheinung während der Anpassungsstörung ist das unaufhörliche Grübeln über die eigene Situation. Sie formulieren, dass das Grübeln das Gegenteil von Nachdenken und Problemlösung ist. Warum?

Hofmann & Hoffmann: Grübeln findet bei geringer Spannkraft statt (s.o.), also wenn das Denken, der kraftvolle Realitätsbezug abgeschaltet ist. Grübeln hat die Eigenschaft, dass die Gedanken kein Ende finden, sich wiederholen und nicht lösungsorientiert sind. Meist grübelt man über die eigene Lage ohne abschalten zu können. Denken hingegen ist problemlöseorientiert und es bezieht konkretes Handeln mit ein. Ziele werden aufgestellt, sinnvolle Handlungspläne abgeleitet und der rechte Zeitpunkt zur Umsetzung festgelegt.

Vielfalltag:  An einer Stelle im Buch spüre ich fast so etwas wie Wut herauszulesen: „Haben wir inzwischen ein Anrecht darauf, dass alles, was sich auf diesem Planeten ereignet, für uns einen weltübergreifenden, größeren Sinn hat, und zwar einen positiven, uns fördernden, wie für unsere Belange maßgeschneidert?“. Sie sind also der Meinung, dass nicht alles einen Sinn hat? Dinge passieren ihrer Meinung nach auch ohne höhere Mächte? Wie stehen Sie dann zu Schicksal und Zufällen?

Hofmann & Hoffmann: Menschen streben nicht selten dazu Situationen und Gegebenheiten einen Sinn zu geben, der von höheren Mächten gegeben und notwendig schicksalshaft ist. Das entlastet zum einen (denken wir an die positive Funktion von Aberglaube, der in gefährlichen Situationen Pseudosicherheit verleiht). Andererseits kann der Zwang zum Sinn, das Nachdenken über den „abstrakten Lebenssinn“ auch unter Druck setzen. Einen abstrakten Sinn kann es nicht geben. Denken wir an die Geschichte von Hegel, wo ein Mann zum Markt ging, um dort Obst zu kaufen. Aber er fand dort nur Äpfel, Birnen, Kirschen…, aber kein „Obst“. So ging er leer nach Hause. Wir finden im Konkreten, im Hier und Jetzt unseren jeweiligen Sinn.

Vielfalltag:  Bei all den Herausforderungen sprechen Sie von Krisen als „Motor von Entwicklungsschüben“. Wie nah an der Wirklichkeit ist dieses Potenzial für Neugestaltung?

Hofmann & Hoffmann: Bei Krisen fühlen Menschen oft, dass es so wie bisher nicht weitergeht. Der bisherige Weg endet in einer Sackgasse und sie müssen zunächst eingestehen, dass ihre bisherigen Ziele, Handlungen nicht mehr hilfreich sind. Die Wiederholung muss aufgegeben werden zugunsten einer Neuorientierung: „Ich stehe auf einer Kreuzung, wohin kann ich sinnvoller gehen?“.  Dem Festsitzen enthoben kann sich der Betroffene nun einer neuen Richtung zuwenden, die ihn in seinen Potentialen entfalten lässt.

Vielfalltag:  Sie schreiben „Der gesunde Mensch lebt zumindest auch immer in der Zukunft, ob er will oder nicht“. Was haben Sie für die Zukunft geplant?

Hofmann & Hoffmann: Wir haben für die nächste Zukunft einige Artikel geplant zum Thema Zwänge und Ängste, aber auch Arbeitsstörungen, da dies ein wichtiges Thema in der Gesellschaft ist. Neben der Arbeit sollen auch Hobbys wie Lesen, Musik, Schach und Sport einen Raum einnehmen.

Vielfalltag: Das Interview abschließen möchte ich mit einer Frage aus dem Buch, dort gerichtet an Patienten/Patientinnen. Doch nun bitte Sie: „Wie stehen Sie denn eigentlich jetzt zu sich selber?“.

Hofmann & Hoffmann: Wir hoffen, dass es uns gelingt so zu uns zu stehen wie im Buch beschrieben – also trostvoll, haltgebend bei Schwierigkeiten und Mut zur Überwindung gebend falls möglich. Einen zuversichtlichen Blick in die Zukunft behalten und immer wieder neu generieren, sich auch freuen an den kleinen Dingen des Lebens und immer wieder Neues versuchen zu entdecken.

Hoffmann und Hofmann Anpassungsstörung und Lebenskrise

Weitere Informationen zum Buch auf der Verlagsseite von Beltz

Homepage von Hofmann & Hoffmann:

Arbeitsgemeinschaft

Angst – Depression – Arbeitsstörungen – Zwänge

http://www.agadaz.de/

Es fragte: Henry Berner