Graffiti - Interdisziplinäre und kontemporäre Perspektiven – Interview mit Friederike Häuser
Seit diesem Jahr erscheinen im Verlag Beltz Juventa Bücher der Reihe »HipHop Studies«.
„Es geht um die Integration und Abbildung der verschiedenen Disziplinen, die sich mit HipHop befassen (Soziologie, Geschlechterforschung, Medien- und Kulturwissenschaft, Soziale Arbeit, Pädagogik, Literatur- und Musikwissenschaft). Wir wollen ein Forum bieten für diese Disziplinen und es mit einer thematisch breiten Aufstellung den Akteur_innen ermöglichen, ihre Arbeiten zu HipHop zu veröffentlichen.“, sagen die Herausgeber Marc Dietrich und Martin Seeliger. (link)
Herausgeberin der neuesten Veröffentlichung der Reihe, »Graffiti – Interdisziplinäre und kontemporäre Perspektiven«, ist Friederike Häuser. Die 35-Jährige hat Soziale Arbeit in Kiel und Internationale Kriminologie in Hamburg studiert. Mit Vielfalltag sprach die Hamburgerin über zielführende Betrachtungen zum Thema Graffiti, eine Hausdurchsuchung die sie sensibilisierte und vieles mehr.
Frau Häuser, Sie sind Sozialarbeiterin und Kriminologin, wie kam es zu diesem interessanten Mix?
Ich habe mich schon immer sehr für den Aspekt der Abweichung interessiert, in allen möglichen Formen. Die Soziale Arbeit beschäftigt sich zum großen Teil mit den Auswirkungen, die aus der Konstruktion von gesellschaftlichen Normen resultieren. Genauer gesagt mit eben jenen Menschen, die aus den konstruierten Rastern fallen. Ich habe mein Studium der Sozialen Arbeit direkt inhaltlich auf den Master in Kriminologie ausgerichtet, weil mich der gesellschaftliche Umgang mit dem konstruierten Anderssein interessiert. Die kritische Kriminologie finde ich deshalb so gut, weil man da nicht fragt, warum Menschen straffällig werden. Das ist einfach, Menschen werden straffällig, weil Menschen ein Strafrecht erfinden. Das ändert sich dann alle paar hundert Jahre minimal je nach Zeitgeist. Mich interessiert zu untersuchen, wie damit umgegangen wird, wenn Menschen abweichen und wie gewisse Strafbedürfnisse zustande kommen und ausgelebt werden. Ich schätze die Abweichung an sich sehr.
Graffiti und Soziale Arbeit, das bedeutet ganz oft, dass Workshops durchgeführt werden. Wie bewerten Sie das? Geht da noch mehr oder geht es gar nicht anders?
Ja also Graffiti Workshops finde ich prinzipiell sehr gut und ich glaube, es gibt da auch immer eine Menge von, vor allem mit Jugendlichen. Ich habe selbst mal einen mit Senior*innen gemacht, vor vielen Jahren. Das fand ich besonders gut, weil diese Generation echt einen erschwerten Zugang zu Graffiti hat. Aber sie haben sich drauf eingelassen. Ich habe ihnen erst etwas zu Graffiti erzählt, zur Geschichte und so weiter. Und in der Zeit bis zur Umsetzung haben sie sich dann einen Crewnamen ausgedacht und eine Skizze erstellt. Die waren sehr überrascht, was Graffiti für einen Spaß macht, auch oder obwohl sie ständig im Hinterkopf hatten, dass das grundsätzlich ja was Verbotenes ist. Es war ihnen zwar klar, dass wir an einer legalen Wand sind und trotzdem machten sie ständig Späße darüber, dass sie hoffentlich wenigstens alle in eine Zelle kommen, wenn sie dafür eingebuchtet werden. Das war wirklich schön mit den Suppengirls. Aber Workshops sind natürlich für alle möglichen Leute ein Zugang zu Graffiti und wenn nicht ist das ja auch eine gute Erkenntnis.
Vom Tag der Umsetzung gibt es auch ein YouTube Video, dafür muss man nur nach „Suppengirls“ googeln. Hier mal der Link zum Graffiti mit Senior*innen Workshop: link
Hat sich mit Ihrem Master-Studium der Blick auf Graffiti in irgendeiner Form verändert? Bot Ihnen die Kriminologie also Blickwinkel auf Graffiti, die Sie als Sozialarbeiterin noch gar nicht bedacht hatten?
Ja, durchaus. Die kritische Kriminologie befasst sich ja wie gesagt oft mit den Reaktionen auf Abweichung. Das Strafrecht ist natürlich auch im Graffiti ein relevantes Regelwerk, wenn es um die Reaktion geht. Man sieht auch, dass Eigentum in einer neoliberal geprägten Gesellschaft immer schätzenswerter scheint als körperliche Unversehrtheit, zum Beispiel wenn man sich gewisse private Security-Akteure anschaut und wie die agieren. Aber neben dem Strafrecht sind andere Strafpraxen viel relevanter, nämlich die aus der Szene selbst. Und die sind auch komplexer, als halt einfach mit einer Anzeige wegen Sachbeschädigung zu dealen. Wenn Sprüher:innen von den szeneinternen Regeln, von den auch oft unausgesprochenen Vorstellungen, wie man sich zu verhalten hat und wie nicht, abweichen, dann ist das oft sehr viel schwieriger zu handeln. Und das ist kriminologisch natürlich auch viel interessanter als das Strafrecht und die darin vorgesehenen Strafen.
Wie wurden Sie Herausgeberin des Buches „Graffiti – Interdisziplinäre und kontemporäre Perspektiven“?
Das ist eine sehr zufällige und für mich glückliche Entwicklung gewesen. Bei Facebook habe ich gesehen, dass Martin Seeliger und Marc Dietrich Herausgeber einer neuen Reihe „Hip-Hop Studies“ beim Juventa Verlag wurden. Ich habe Martin Seeliger daraufhin angeschrieben, weil ich neugierig war, ob sie nur den musikalischen Part betrachten, oder eben auch z.B. Graffiti. Es ist ja oft eine individuelle Definitionssache, welche Elemente nun zu HipHop gehören und so weiter. Er sagte jedenfalls, dass sie das Thema Graffiti noch nicht in Betracht gezogen hätten, weil sie sich damit nicht auskennen. Und weil ich mich gut damit auskenne hat Martin Seeliger mich gefragt, ob ich das nicht übernehmen möchte.
Welche Aufgaben kamen dann auf Sie zu? Wie lief die Arbeit für Sie als Herausgeberin ab?
Die ersten Arbeitsschritte lagen in einer Marktanalyse und in einem Exposé für den Verlag. Hier wurde schnell klar, dass da eine Marktlücke besteht und dass es auch inhaltlich genügend Potenzial und Relevanz gibt.
Und nachdem der Verlag dann zugesagt hat, lag die Arbeit in erster Linie darin, Autor:innen zu finden. Hier hatte ich zum Teil sofort Ideen wer in Frage kommen könnte und zum anderen recherchierte ich nach Beitragenden, weil es natürlich darum ging eine Vielfalt an Autor:innen und Themen zusammen zu kriegen. Mir war es zudem auch wichtig, dass es eine Ausgewogenheit an männlichen und weiblichen Beitragenden gibt, da im Graffiti der Diskurs ja oft sehr männlich geprägt ist. Und dann ist die kontinuierliche Aufgabe mit den Beitragenden ihre Themen, alles Organisatorische und sonstige Belange abzustimmen, bis die Deadline erreicht ist. Ich muss sagen, dass alle Autor:innen dieses Bandes nicht nur super professionell gearbeitet haben, sondern auch für mich und meinen eigenen Lernprozess eine Bereicherung waren, sodass es wirklich eine Freude war, gemeinsam dieses Werk zu schaffen.
Sie schreiben: „Die Betrachtung des Phänomens Graffiti – sowohl die wissenschaftliche, als auch die journalistische – ist mengenmäßig überschaubar und begnügt sich außerdem oft mit der einfachen Frage, ob man Graffiti nun als Kunst oder Vandalismus einordnen kann“. Welche Betrachtungen auf das Thema sind denn zielführender und vielleicht ja sogar im Buch zu finden?
Ja, diese Frage hat sich wirklich zum Klassiker entwickelt. Ich argumentiere einerseits dafür, dass es erstens überhaupt nicht nötig ist das Phänomen Graffiti so zu bewerten und andererseits dafür, lieber die ganzen Facetten dazwischen in den Blick zu nehmen. Natürlich ist es jedem Menschen selbst überlassen, ob er Graffiti als Sachbeschädigung einordnet, oder ob er für Werke von Graffitikünstler*innen viel Geld zahlen möchte. Aber zwischen dieser Alles oder Nichts Bewertung liegen so viele interessante Aspekte, die nicht übersehen werden sollten und von denen einige in dem Buch betrachtet werden. Zum Beispiel welchen Einfluss Social Media auf Graffiti hat, was Graffiti mit Identität zu tun hat, was die Institutionalisierung mit Graffiti macht, welche Prozesse im Öffentlichen Raum durch Graffiti angestoßen werden, bis hin zur poetischen Dimension von Graffiti.
Was denken Sie, welchen Stellenwert Graffiti in der Wissenschaft hat? Was spricht dafür, Graffiti wissenschaftlich zu beobachten?
Ich denke das wissenschaftliche Potenzial ist unterschätzt. Es gibt mehr wissenschaftliche Publikationen zum Thema Street Art als zu Graffiti und ich kann nur mutmaßen, dass es irgendwie leichter ist sich einem Phänomenbereich zu nähern, der nicht ganz so illegalisiert ist wie Graffiti. Street Art ist oft auch leichter zu lesen und zu interpretieren, weil die Message oft direkt mitgeliefert wird. Ich denke Graffiti wird oft wissenschaftlich übersehen, weil man vom Schreibtisch aus einfach einen sehr schlechten Zugang zum Feld hat. Was man sehen kann ist schwer zu interpretieren und was man nicht sehen kann ist schwer überhaupt zu erahnen, wenn man keine Bezüge zur Szene hat.
Vielleicht ist es auch so, dass die Szene und die Wissenschaft einfach nicht so einleuchtend vereinbar scheinen. Es ist ja beim Thema Rap ähnlich, aber bei Graffiti ist alles noch etwas abstrakter, weil es keine zu analysierenden Texte gibt. Im Graffiti liegt viel im Verborgenen und wie ich in der Einleitung auch sage, geht es nicht darum dieses Verborgene in einer Art zu explorieren, die alles offenlegt. Es geht mir eher um eine Wertschätzung. Graffiti ist halt da, es wird immer mehr, nimmt unterschiedliche Formen an und jede*r kann es sehen – es ist relevant. Was also dafür spricht Graffiti wissenschaftlich zu betrachten ist, dass es ein Phänomen ist, das schon lange weit über Jugend und Subkulturen hinausgeht, viel mehr ist als Narzissmus oder Vandalismus. Soziologie, Politik, Kunst, Kriminologie – das ist nur eine Auswahl an wissenschaftlichen Disziplinen, die das Phänomen auf ihre Weise betrachten können.
Was denken Sie, ist das Buch auch erhellend für Sprüher*Innen oder ist es schon eher etwas von Wissenschaftler*Innen für Wissenschaftler*Innen?
Ja, das ist eine gute Frage. Um die zu beantworten will ich erstmal deutlich machen, dass wissenschaftliches Schreiben nicht bedeutet, möglichst lange, verschachtelte und komplizierte Sätze zu bilden, bei denen man den Anfang schon vergessen hat wenn man am Ende ankommt. Die Kunst der Wissenschaft ist eigentlich, komplexe Sachverhalte einfach zu beschreiben. Also in dem Fall Phänomene, die man beobachtet, zu untersuchen und am Ende zu einer Einordnung zu kommen. Sprachlich ist jeder Beitrag total unterschiedlich, es gibt ja auch welche auf Englisch. Manche beziehen sich auf Theorien, manche auf Geschichte, manche auf Erfahrungswissen. Also sind die Beiträge alle total unterschiedlich, was ich super finde.
Einige Sprüher:innen werden sagen „über was machen die sich bloß Gedanken, ich geh nur malen und das wars“. Andere Sprüher:innen werden vielleicht denken „ah ja, ok, darüber hab ich noch gar nicht nachgedacht.“ Also zwischen egal und interessant wird es wahrscheinlich alles geben und das ist ja auch gut so.
Am Ende ist es so, dass das Buch keinen Sprüher*innen irgendetwas erklären kann, aber es kann in dem Sinne erhellend sein, dass man sieht es gibt noch andere Blicke auf die Sachen, die da abgehen. Das kann auch einen szeneninternen Diskurs befeuern, wenn die Leute was über die Social Media und Graffiti lesen, oder über Graffiti in Galerien, oder darüber, wie legales Graffiti eigentlich die Szene unterwandern kann.
Für Wissenschaftler:innen ist es in jedem Fall erhellend und für Sprüher:innen kann es erhellend sein. Was gut ist, ist, dass alle Autor:innen einen Bezug zu Graffiti haben. Da ist kein Thema weit hergeholt oder künstlich konstruiert.
Können Sie sich daran erinnern, wann und wo Sie Graffiti zum ersten Mal bewusst wahrgenommen haben?
Daran kann ich mich nicht konkret erinnern, weil sich Graffiti ganz früh in mein Leben geschlichen hat und es seit ich denken kann irgendwie dazu gehörte und normal war. Ich kann mich aber daran erinnern – da muss ich ungefähr 12 gewesen sein – als ich mal bei einer Freundin übernachtete und wir sehr früh davon geweckt wurden, dass die Dorfpolizei klingelte und eine Hausdurchsuchung machen wollte, weil ihr Bruder in der Nacht zuvor beim Taggen gesehen wurde. Offenbar hat diesen jungen Teenie jemand verpfiffen und die Polizei hielt es für angebracht sofort eine Hausdurchsuchung zu machen. Das veränderte meine Gedanken zu Graffiti, weil ich plötzlich merkte, dass andere Menschen das nicht für normal und ok halten, sondern das bei der Polizei melden und somit als Gefahr einordnen. Ich war in dem Moment total genervt, weil ich natürlich eigentlich ausschlafen wollte und auch weil ich es so übertrieben fand. Die Mutter hat einen riesigen Schreck bekommen, dass überhaupt jemand um 6 Uhr morgens an der Tür klingelt und dann auch noch die Polizei. Und seitdem habe ich einen sensibilisierten Blick dafür, wie manche Leute den Straftatbestand Sachbeschädigung tatsächlich als Gefahr wahrnehmen. Und das hat natürlich, wenn man es weiterspinnt, mit Eigentum und Kapitalismus zu tun.
Würden Sie sagen, dass Sie Graffiti-Vorlieben haben? Also gibt es bestimmte Formen, Farben, Untergründe auf denen aufgetragen wird oder Künstler*Innen, die Ihnen besonders gefallen?
Nein, ich habe keine Vorlieben. Eigentlich ist ja das Gute, dass im Graffiti alles erlaubt ist und jede*r machen kann, wonach einem halt ist. Es gibt natürlich auch die Leute, die sagen: das ist kein Graffiti, so macht man das nicht, das gehört so nicht. Aber alle wirklichen Künstler*innen denken eben das gerade nicht. Und sie sind außerordentliche Künstler*innen, weil sie sich gerade nicht dran halten, dass es scheinbar irgendwie gehört. Ich finde wer darauf besteht, dass Graffiti auf eine bestimmte Art gemacht werden muss, ist konservativ wie die CDU und ich frage mich, wieso man sich so engstirnig entgegen Fortschritt positioniert. Ich mag die sogenannten Toys gerne, weil sie auf die bekannten Formen, Farben und Untergründe scheissen. Die probieren (sich) halt aus und das finde ich cool. Dass man sie Toys nennt, finde ich, ist der Versuch einer Beleidigung, der aber eigentlich ein Kompliment dafür ist, dass diese Leute eben das Spielerische und den Spaß bei der Sache umsetzen und nicht versuchen das umzusetzen, was von irgendwelchen Leuten, die schon seit den 90ern malen, als richtig empfunden wird. Das ist auch so eine Sache, das Sprüher:innen immer betonen wie lange sie schon malen. Als würde das irgendwas aussagen. Wenn das Neue von den Alten als Bedrohung empfunden wird, ist das nur ein Zeichen für Entwicklung.
Früher sprach man noch von, bzw. gab es noch, typische Styles die mit Städten verknüpft waren. Der New-York-Style, der Amsterdam-Style oder Ruhrpott typisches Graffiti.
Wenn Sie jetzt an Graffiti in Kiel und Hamburg denken, gibt es da typische Styles? Und was fällt im Vergleich der beiden Städte sonst noch auf?
Ja die typischen Styles, die gibt es wohl. Ich weiß gar nicht, ob ich zwischen Kiel und Hamburg so große bzw. deutliche Unterschiede ausmachen kann. Die beiden Städte sind ja sehr nah und ich glaube der Austausch besteht da schon rege. Ich muss auch sagen die Frage nach bestimmten Styles in bestimmten Städten wirft mich zurück in die 90er, also in eine Zeit, in der mein Blick aufgrund des Alters noch viel beschränkter war. Solche Styles gehören definitiv zur Geschichte, aber der Pott ist ja jetzt auch nicht mehr nur dick und blockig. Graffiti ist insgesamt vielseitiger geworden. Eine der guten Dynamiken im Graffiti ist ja auch, dass die Leute rumkommen, viel reisen, sich vernetzen und somit bestimmte Stile auch über Grenzen gehen.
Was hat Sie wann im städtischen Erscheinungsbild zuletzt überrascht und hat Graffiti dabei eine Rolle gespielt? Gibt es diese Überraschungsmomente bzw. Überwältigungsmomente durch Graffiti für Sie?
Überrascht nicht wirklich, aber erfreut hat mich die Entwicklung des sogenannten Antistyles und dass das eben nicht nur auf Zügen stattfindet, sondern auch viel in den Straßen. Wie eben schon gesagt ist das eine erfreuliche Abwechslung zum klassischen Graffiti. Neulich habe ich ein riesiges KOT an einer Hauswand gesehen, das auch über einen Zigarettenautomaten gemalt war und das fand ich cool, weil erstens das Bild diesen Automaten verschlungen hat und zweitens, weil ich mir versuchte vorzustellen, wie jetzt die Leute da ihre Kippen kaufen, wenn alle Auswahlfelder Chrom sind und dann überlegte ich, wie oft Leute überhaupt noch Zigaretten am Automaten kaufen usw. Also das mag ich halt, wenn Graffiti im öffentlichen Raum etwas im Kopf anstösst, egal was. Es gibt da auch Negativ-Beispiele, zum Beispiel sehe ich Auftragsgraffiti ja sehr kritisch. Darüber handelt auch mein Beitrag im Buch. Man sieht ja überall, dass dieses „legalisierte Graffiti“ im städtischen Erscheinungsbild immer mehr eine Rolle spielt. Auf der einen Seite finde ich es gut, wenn Leute durchs Sprühen Geld verdienen können. Aber auf der anderen Seite ist das halt oft eine neoliberale Logik von Hauseigentümern mit dem Ziel echtes, also illegales Graffiti zu verhindern. Und da überrascht mich dann, dass so viele Sprüher das mitmachen.
Sie erwähnen Ihren Beitrag „Graffiti, Gouvernementalität und Grenzen. Auftragsgraffiti als Strategie zur Graffitiprävention?“ Welche Wirkung kann Graffiti Ihrer Meinung nach noch haben, wenn die Illegalität fehlt? Gibt es auch Auftragsgraffiti das Ihnen gefällt? Wünschen Sie sich Gegenstrategien zum Auftragsgraffiti?
Ja, also wenn die Illegalität fehlt ist das nicht gleich problematisch. Halls sind ja für viele Sprüher:innen auch wichtig. Aber das Beispiel Auftragsgraffiti zeigt halt, wie die Wirkungen über die Szene hinaus gehen und dass die Effekte auf andere Bereiche nicht immer gut sind. Zum Beispiel gibt es in der Schanze in Hamburg ein Haus, das regelmäßig legal bemalt wird, zusätzlich oder in Abwechslung mit großen Werbeplakaten. Hier vermischt sich zum einen die Kunst mit Kommerz, sodass für Leute die Trennlinie immer schwerer zu erkennen ist, ob es sich nun um künstlerische Freiheit oder Werbung handelt. Zum anderen muss man sich auch fragen, was mit der Hauswand passiert, wenn jahrelang immer weiter Lackschichten drüber gemalt werden oder wahlweise ein riesiges Plakat dranhängt. Da hat das Gemäuer weniger Möglichkeit zu atmen und die Entwicklung von Schimmel kann befördert werden. Des Weiteren ist das Interesse der Auftraggebenden natürlich relevant. In vielen Fällen entscheiden Eigentümer:innen sich nur für legales Graffiti, um illegales zu verhindern, oder weil Verwaltungen das finanziell fördern. Und das kann als Strategie gesehen werden, die Oberhand über die Gestaltung des öffentlichen Raumes zu gewinnen, sodass am Ende eher Stadtverwaltungen und Hauseigentümerinnen bestimmen, wie die Wände einer Stadt aussehen, als Sprüher:innen oder andere Künstler:innen.
Es geht also auch um die Frage, wer wen und was regiert im öffentlichen Raum und mit welcher Motivation und mit welchen Mitteln.
Also mir gefällt durchaus auch mal Auftragsgraffiti, aber ich kann dann nicht anders als an solche Hintergründe zu denken. Und ja, ich wünsche mir Gegenstrategien, auf jeden Fall. Ich denke da wäre sehr vieles möglich. Entweder man lässt sich nicht drauf ein, dass die Abschreckung funktioniert und malt einfach über Aufträge, was schwierig ist, weil ja oft namhafte Leute dafür engagiert werden, aber diese könnten damit ja auch anders umgehen als mit dem Crossen illegaler Bilder. Oder man sagt halt auch mal nein, wenn man damit nur Leuten in die Karten spielt, die Graffiti gar nicht wertschätzen für das, was es eigentlich ist. Oder man diskutiert zumindest öffentlich drüber und macht solche Prozesse transparenter… oder, oder, oder…
Sehr zutreffend finde ich die Gedanken in dem Beitrag „Is this likeable? Über den Einfluss Sozialer Medien auf die Writing-Kultur“ von Oliver Bartelds. Wie konsumieren Sie Graffiti online und sind Bartelds Beobachtungen auch Ihre Beobachtungen?
Ja ich kann in dem Beitrag auch sehr viele Gedanken wiederfinden, die ich zutreffend finde. Ich konsumiere Graffiti mittlerweile natürlich hauptsächlich online und Instagram ist da für mich auch die wichtigste Plattform (auf der ich aber wiederum auch sehr oft auf Printmedien aufmerksam gemacht werde, die ich mir dann kaufen kann). Wie Oli ja auch beschreibt ist diese Online-Präsenz nicht komplett neu – früher, eigentlich sobald es technisch möglich war, gab es ja auch schon Fotoblogs mit Kommentarfunktion, nur findet das heute in einer ganz anderen Intensität statt. Also ich teile durchaus die Beobachtungen und sehe darin aber auch nicht nur schlechtes. Es ist halt eine Veränderung, wie die Zeit sie bringt. Und ich finde durch Instagram ist Graffiti auch viel zugänglicher geworden. Wie Oli ja auch sagt, ist das traditionelle nicht gefährdet durch die Neuerungen, sondern es existieren unterschiedliche Systeme. Ein Inszenierungs-Druck besteht ja heutzutage überall, auch z.B. im Kontext Beruf, nicht nur im Kontext Hobby. Und klar gibt es einen Wertekonflikt, da stimme ich auch zu. Das findet sich im Laufe der Zeit aber auch überall, siehe nur das Thema Politik. Also überall gibt es welche die sagen: die Tradition muss gewahrt werden und die Jugend von heutzutage ist doch bescheuert wie die das machen, da mach ich nicht mit. Und zum Glück müssen die das ja auch nicht.
Mit Blick auf den Beitrag „Von der Kunst im Verbotenen. Oder: Graffiti als Teil der Kunstwelt“ von Larissa Kikol: Welche Ausstellung, in der Graffiti in irgendeiner Form Bestandteil war, war ihre Liebste und wieso?
Da kann ich gar keinen Favoriten aussprechen, weil sowas ja auch sehr persönlich geprägt ist warum man etwas mehr oder weniger mag. Ausserdem waren meine Ausstellungsbesuche bisher immer auf Deutschland beschränkt und da gibt es ja echt noch nicht viele Shows, in denen Graffiti Bestandteil ist. Ich wäre gerne bei Larissas Ausstellung in Marseille gewesen und ich würde sehr gerne mal zu einer von Beyond the Streets in New York.
Was wünschen Sie sich für das Buch?
Ich wünsche mir für das Buch, dass Leute da offen herangehen. Die erste Hürde ist mit Sicherheit: dont judge a book by its cover. Das Buch sieht auf jeden Fall erstmal ganz anders aus, als jedes andere Buch, in dem es um Graffiti geht. Aber es ist ja auch ein ganz anderes Buch, insofern ist das ok. Und generell ist oft bei Dingen die es vorher nicht gab so eine Skepsis da, von wegen: braucht man das denn überhaupt? Das kann natürlich jede*r für sich entscheiden. Ich finde – sonst hätte ich das ja auch nicht gemacht – dass Graffiti von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung ist und deshalb finde ich es nur logisch, dass es auch in den wissenschaftlichen Diskurs Einzug erhält und dadurch auf eine neue Art und Weise wertgeschätzt wird.
Vielen Dank für das Interview.
Mehr zu dem Buch gibt es hier:
Es schrieb: Henry Berner
Fotos: Henry Berner