Thorsten Nagelschmidt Interview – Der Abfall der Herzen (mit Gewinnspiel)

In dem Buch Der Abfall der Herzen (S. Fischer Verlag) ist Thorsten Nagelschmidt gleich zweimal zugegen. Einmal als Anfang Zwanzigjähriger 1999 in Rheine und zum anderen als Interessent an diesem Anfang Zwanzigjährigen 2015 in Berlin. Warum der ehemalige Sänger der Band Muff Potter sich für sich interessiert, liegt an seinen Schriften. Denn er tat sich selbst den Gefallen ohne sich selbst einen Gefallen machen zu wollen und fing 1991 mit dem Führen von Tagebüchern an. 1999 schrieb er mehrmals täglich. Das war seinerzeit bitter nötig, wollte er seine Freunde schließlich nicht permanent mit seinen Beziehungsproblemen nötigen. Er mutierte zum Vielschreiber und hatte sein Tagebuch immer dabei um Druck, Lust, Frust, Stress stets schnell kanalisieren zu können. Die Tagebuchseiten füllten sich. Über die Jahre haben sich über 100 Tagebücher angesammelt.
Das Lesen seiner alten Tagebücher (besonders von 1999) regte den 2015er Nagelschmidt so sehr an, dass es nicht beim Lesen bleiben sollte. Von Faszination und Aufklärungswunsch um die damaligen Ereignisse und sein früheres (nun fremdartig wirkendes) Ich getrieben, begab er sich auf Spurensuche nach Rheine. Die Stadt, in der er 1999 lebte. Um alles besser verstehen zu können, traf er sich darüber hinaus mit Wegbegleiter*innen von damals. Nun mag die Wiederentdeckung alter Jugend-Tagebücher zunächst wenig packend klingen. Was Nagelschmidt aber daraus macht, wie liebevoll er mit seinen Figuren umgeht, wie es ihm gelingt Lesende mit nach Rheine mitzunehmen und in Zwischentönen angebrachte Selbstreflexion unterzubringen ist beachtlich. Nagelschmidt wollte verstehen, weniger bewältigen. Sein Interesse für sich ist koexistent mit dem Interesse an allen und allem anderen aus der damaligen Zeit.
So kommt es also, dass mit Der Abfall der Herzen ein autobiographischer Roman vorliegt, dessen Herzkammer der Sommer 1999 ist. Die Herzklappe ist dabei stets geöffnet wie ein aufgeschlagenes Tagebuch in einer WG und ermöglicht Platz für Protagonisten, Plätze und geplatzte Träume und Treue aus der Vergangenheit und Gegenwart. Im folgenden Interview wird es also sowohl um Zitate aus dem Buch gehen, die mal dem jugendlichen Nagelschmidt zuzuordnen sind, als auch um Zitate, die sich um den Nagelschmidt der Jetztzeit drehen.

Thorsten Nagelschmidt ›Der Abfall der Herzen‹

Vielfalltag: Dieses Buch ist die erste absichtliche Beschäftigung mit Thorsten Nagelschmidt für mich. In mir schwebt aber eine Erinnerung an Myspace-Zeiten. Ist es möglich, dass du dort ziemlich aktiv warst oder täusche ich mich?

Nagelschmidt: Natürlich war ich bei Myspace. Womöglich war ich sogar »ziemlich aktiv«. Damals fand ich das Internet noch neu und aufregend. Ich hieß zu der Zeit allerdings noch Nagel.

Vielfalltag: Kannst du dich noch an deine Befürchtungen vor Veröffentlichung des Buches erinnern, so es sie gab? Oder hat das Feedback und die Lese-Tour diese Gefühle überspeichert?

Nagelschmidt: Beim Schreiben eines Romans und vor der Veröffentlichung geht einem sehr viel durch den Kopf. Oft macht man sich wegen vielen Dingen verrückt. Zum Glück wird das später überlagert. Wie bei einer Frau, die sonst nach der ersten Geburt vielleicht nie wieder ein Kind bekommen wollen würde.

Vielfalltag: Ob nun Buch, Film, Serie oder Theaterstück – immer wieder rufen diese Formate Sehnsüchte hervor, bei denen sich die Leserschaft oder Zuschauer denken: Da wäre ich gerne dabei gewesen oder das hätte ich gerne durchlebt. Kannst du dir vorstellen, dass dein Buch auch solche Gefühle erzeugt?

Nagelschmidt: Das hoffe ich doch.

Vielfalltag: Im Buch beschreibst du den Ausblick aus deinem ersten WG-Zimmer in Rheine: „Die Ampel wurde abends abgeschaltet und blinkte dann nur noch orange. Ich liebte diesen Anblick, besonders im Regen, wenn das Ampelsignal sich rhythmisch auf der nassen Straße brach, eine kleine Lightshow auf dunklem Asphalt, monoton, trist-romantisch, irgendwie urban“. Berlin, wo du jetzt lebst, ist ja nicht nur irgendwie urban, sondern ziemlich urban. Welche Ausblicke liebst du hier?

Nagelschmidt: In einer Großstadt muss man ziemlich weit oben wohnen, um den Ausblick zu lieben. Ich wohne im 1. OG.

Vielfalltag: Über Berlin schreibst du: „Überall Besoffene, Feiernde und Grölende, überall Kaputte, Abgehängte und Verwirrte, auf deren Seite man theoretisch ist, die einem in echt aber den letzten Nerv rauben mit ihrer Dummheit, ihrer Unsicherheit und der Kackmusik, die sie alle hören“. Wie erklärst du dir diesen emotionalen Spagat und ab wann stört dich die Unsicherheit anderer Menschen?

Nagelschmidt: Der Spagat ergibt sich daraus, dass es sich bei den vermeintlich oder tatsächlich Abgehängten, Marginalisierten oder Unterdrückten nicht immer um angenehme Personen handelt. Unsichere Menschen versuchen ihre Unsicherheit oft zu überspielen. Junge Männer sind da das größte Problem, nicht nur in Berlin.

Vielfalltag: Was denkst du oder weißt du über den aktuellen Zustand von Rheine? Gibt es „in diesem Schweinekaff“ in dem es dir laut Buch „um jeden Einzelnen“ ging der blieb, heute noch Leute die um jede*n Einzelne*n und somit um Lebensqualität kämpfen?

Nagelschmidt: Die gibt es ja überall, aber sie sind leiser geworden, weniger sicht- und hörbar auf den Straßen. Das hat vielleicht mit dem Internet zu tun oder damit, dass alle so schnell wie möglich ihre Käffer verlassen und nach Berlin gehen. Aber auch mit einem zunehmend rechten oder unpolitischen Mainstream. Dabei empfand ich meine eigene Generation damals ja schon als langweilig und angepasst. Wie das genau in Rheine aussieht, kann ich nicht beurteilen.

Vielfalltag: Du beschreibst an einer Stelle im Buch, wie du während eines Rheine Aufenthalts aus Recherchegründen, einen ehemaligen Mitschüler siehst, der müde und abgekämpft aussieht. Wenn du ihn dir nun wieder in Erinnerung rufst, was denkst du über ihn und was denkst du führt er für ein Leben?

Nagelschmidt: Es könnte sein, dass ich diesen Mitschüler erfunden habe.

Der Abbfall der Herzen Cover
Cover Der Abbfall der Herzen von Thorsten Nagelschmidt

Vielfalltag: Im Buch wird ein Eierpfannkuchen-Battle zwischen deinen beiden ehemaligen WG-Mitbewohnern beschrieben, bei dem einer dem anderen vorwirft, seine Eierpfannkuchen-Zutaten wären „Schmuck am Nachthemd“. Gibt es deiner Meinung nach bei Büchern oder Musik etwas, was Schmuck am Nachthemd ist?

Nagelschmidt: Bestimmt. Immer dann, wenn Künstler unbedingt beweisen müssen, was sie alles wissen oder können, wird es langweilig.

Vielfalltag: Du berichtest davon, dass deine Mitbewohner und du um die Gunst der Katze gebuhlt haben – Ist die damalige WG-Katze der Standard für alle darauffolgenden Katzen in deinem Leben geworden oder waren Katzen seit der WG-Katze kein Thema mehr für dich?

Nagelschmidt: Ich habe keine Katze.

Vielfalltag: Im Buch befindet sich folgende Aussage von dir: „Für den Zweifelnden gibt es nun mal kaum etwas Unerträglicheres als die Konfrontation mit der Entschlossenheit der anderen“. Was hilft da? Bleibt zweifelnden Menschen nur übrig sich von entschlossenen fernzuhalten oder selbst zu entschlossenen Menschen zu werden?

Nagelschmidt: Ich lese gerade zum zweiten oder dritten Mal ein Buch namens Daily Rituals. Darin geht es um die Arbeitsgewohnheiten berühmter Schriftsteller, Musiker und Künstler. Immer wenn bei jemandem von Schreibblockaden oder Zweifeln die Rede ist, beruhigt es mich. Wenn es den Großen auch so geht, dann kann es ja nicht so schlimm sein.

Vielfalltag: Dein früheres Ich stellt sich in Der Abfall der Herzen eine spannende Frage: „Ich wollte verletzlich und traurig wirken, aber auch cool und attraktiv. Ein schmaler Grat. Wie machte man so was?“. Konntest du auf diese Frage mittlerweile Antworten finden oder ist dir diese Frage mittlerweile egal geworden?

Nagelschmidt: Das ist natürlich eine typisch jugendliche Denkweise, die viel mit Identität, Distinktion und der eigenen antizipierten Außenwahrnehmung zu tun hat. Zum Glück bin ich kein Jugendlicher mehr.

Vielfalltag: Kann man jemanden mehr loben als zu sagen jemand sei seine/ihre eigene Referenz, wie du es bei einer Figur im Buch getan hast? Wie schafft es ein Mensch, seine/ihre eigene Referenz zu werden?

Nagelschmidt: Manche Menschen schaffen das, ohne es zu versuchen. Weil sie so eigen sind. Eigentlich gilt das für alle Figuren aus »Der Abfall der Herzen«. Ich empfinde den Roman als eine Hommage an die Freaks, die Außenseiter und die Unangepassten dieser Stadt.

Vielfalltag: An einer Stelle im Buch beschreibst du die Angst davor, deine Ex-Freundin mit ihrem neuen Freund zu sehen, ihnen tatsächlich zu begegnen. Denkst du, du musstest die beiden tatsächlich sehen, oder hättest du auch ein zufriedenes Leben führen können, wenn du sie nie zusammen gesehen hättest?

Nagelschmidt: Da fällt mir ein Albert-Camus-Zitat aus einer alten Muff-Potter-Platte ein: »Das Tragische muss verworfen werden, nachdem man ihm ins Gesicht gesehen hat, nicht vorher.«

Thorsten Nagelschmidt Foto
Thorsten Nagelschmidt Foto: Harald Hoffmann

Vielfalltag: Gab es bei all den Ausführungen deiner Freunde und Bekannten auch Ausführungen über dich, bei denen du dir dachtest: Ziemlich gemein wie ihr über mein früheres Ich redet? Also gab es Momente bei denen du dein früheres Ich in Schutz nehmen bzw. dein früheres Ich erklären wolltest?

Nagelschmidt: Die gab es bestimmt, aber andere Dinge haben mich mehr interessiert. 1999 waren ich und die meisten meiner Freunde Anfang 20. Zum Zeitpunkt meiner Recherche war das 16 Jahre her. 16 Jahre sind eine lange Zeit, da gab es genug Abstand.

Vielfalltag: Während der rauschhaften Beschäftigung mit deiner Vergangenheit nennst du im Laufe des Buches folgenden Wunsch: „Meine Vergangenheit, sie soll niemals aufhören“. Wie siehst du das jetzt? Genug Vergangenheit fürs Erste oder köchelt das Interesse für deine Vergangenheit bei dir noch immer?

Nagelschmidt: Ich interessiere mich für mich selbst und meine eigene Vergangenheit. Halte das auch nicht für ungesund, wenn es ein gewisses Maß nicht übersteigt und es um mehr geht als Sentimentalität und klebrige Nostalgie. Zumal die Erinnerung ja nicht statisch ist, sondern sich immer wieder verändert. Als Autor interessiere ich mich momentan aber für ganz andere Dinge.

Vielfalltag: Abschließend etwas, passend zur Sommer-Urlaubszeit. Im Buch erwähnst du: „ich war immer zu pleite für Urlaub gewesen, zu desinteressiert wohl auch“. Wie entsteht Desinteresse für Urlaub bzw. wie erklärst du dir dieses Desinteresse?

Nagelschmidt: Mir wurde das Reisen nie beigebracht. Wenn, dann wurde in meiner Kindheit und Jugend in den Urlaub gefahren, und danach hatte ich lange Zeit kein Geld. Meinen ersten Flug hatte ich mit Mitte 20, nach München. Allerdings habe ich schon früh in Bands gespielt, die auf Tour gegangen sind, unterwegs waren und so viel gespielt haben wie möglich. Das war mir immer wichtiger als 3 Wochen Strandurlaub auf Sardinien.

Der Abbfall der Herzen Cover
Cover Der Abbfall der Herzen von Thorsten Nagelschmidt

Wer nun auf Zeitreise gehen möchte, kann ein Exemplar von Der Abfall der Herzen gewinnen, welches uns der S. Fischer Verlag freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Schreibt uns bis zum 21. Juli 2018 (20 Uhr) eine E-Mail mit dem Betreff „Der Abfall der Herzen“ an kontakt@vielfalltag.de und landet im Lostopf.

Alles über das Buch ist hier zu finden: https://www.fischerverlage.de/buch/der_abfall_der_herzen/9783103973471

Mehr zu Thorsten Nagelschmidt ist hier zu finden: http://thorstennagelschmidt.de/

Es fragte: Henry Berner