MARCUS STAIGER - DIE HOFFNUNG IST EIN HUNDESOHN

Vielfalltag: Du warst vor kurzem ein paar Tage in Frankfurt am Main, wie ist es für dich, wenn du dann wieder zurück nach Berlin kommst? Wie fühlt es sich an?

Marcus Staiger: Ja, das ist mittlerweile schon ein zuhause sein, klar. Hier kennt man alles, hier ist man vertraut, hier hat man seine Leute. Ich fand die letzten Tage spannend, weil ich viel mit Leuten zu tun hatte – fünf Tage unterwegs, in drei verschiedenen Städten. Höxter, Freiburg & Frankfurt. Es ist interessant andere Leute kennenzulernen. Aber wenn ich nach Berlin zurückkomme weiß ich wo was ist, weiß ich wer wo ist, das ist schon cool.

Vielfalltag: Ich frage bewusst, da Ostern für viele, ähnlich wie Weihnachten, mit dem nach Hause kommen verbunden ist.

Marcus Staiger: Ich fühl mich jetzt in Stuttgart auch nicht mehr so wahnsinnig zu Hause. Klar, da komme ich her, habe da gelebt bis ich 21 war. Jetzt bin ich 42. Ich wohne jetzt in diesem Jahr länger hier als dort. Dann verliert man auch so ein bisschen den Bezug, auch wenn man das gar nicht möchte. Ich habe jetzt auch festgestellt, es gibt jetzt nicht mehr so die Sachen die ich dort kenne, ich bin da ganz wenig. Ein mal im Jahr ungefähr. Mein Leben spielt sich schon hier ab. Das merke ich auch wenn ich mit Freunden von dort spreche. Die kennen halt auch nicht viel von dem, was hier passiert.

Vielfalltag: Würdest du dem jugendlichen Staiger rückblickend zutrauen einen Roman schreiben zu können? Welche Themen wären denkbar gewesen?

Marcus Staiger: Ja. Die Themen waren schon immer auf eine gewisse Art und Weise pubertärer. Obwohl, es gibt in dem Roman auch viel innerliche Stimmen, innerliche Zweifel welche die einzelnen Figuren haben. In „Die Hoffnung ist ein Hundesohn“ ist es mir gelungen das in eine starke, äußere Handlung einzubetten. Ich habe früher schon immer gern geschrieben. Ich habe auch, glaube ich, ähnlich geschrieben wie heute. Ich versuche so zu schreiben, dass man die Leute sprechen hört. Ich habe geschrieben seid ich 18/19 bin. Für mich ist eher die Entwicklung interessant, dass man sich das irgendwann mal zutraut/zugesteht, Schriftseller sein zu dürfen. Weil ich aus einem Haushalt komme, in dem das nicht vorgesehen ist. Einfache Leute meine Eltern – da macht man das nicht. Es ist verrückt wenn man das im 21. Jahrhundert immer noch als Konflikt mit sich rumträgt. Aber ich glaube es ist doch stärker präsent als man wahrhaben möchte. In dieser Gesellschaft in der es immer heißt, alle Chancen sind gleich verteilt und jeder darf alles, und jeder kann alles werden – das stimmt nicht. Du bist halt doch durch deine Herkunft und Sozialisation geprägt. Und ich habe es an meiner eigenen Geschichte gespürt. Natürlich hätte ich mich viel stärker darüber hinweg setzen können. Ich will das jetzt auch nicht als Entschuldigung gewertet wissen. Aber ich habe lange gebraucht, bis ich verstanden habe, dass man Schriftsteller sein kann.

Vielfalltag: Journalist sein zu dürfen, ging jedoch eher.

Marcus Staiger: Das hat auch eher was mit arbeiten und einem Arbeitsethos zu tun. Auch wenn ich mich viel mit diesem sinnlosen Arbeiten, um der Arbeit willen beschäftige, was ja in dieser Gesellschaft eindeutig existiert. Und ohne Arbeit bist du halt nichts. Und auch wenn ich dieses ganze Gedankenkonstrukt ablehne, ich komme eben aus einem Arbeiterhaushalt, wo dieser Arbeitsethos wichtig war. Selbst wenn ich ihn auf einer intellektuellen Ebene heutzutage ablehne, er steckt halt doch in mir.

Vielfalltag: Auch interessant, das du während deines Philosophie-Studiums, nebenher schon journalistisch gearbeitet hast.

Marcus Staiger: Ich habe auch gekocht, Ich habe nebenher immer gearbeitet. Und das war mir auch wichtig. Auch das soll nicht als Entschuldigung herhalten, aber das ich mein Studium nicht beendet habe, war, weil das in meinem Kopf gar nicht vorgesehen war, das zu beenden. Ich wollte das ausprobieren, wollte lernen, aber eine akademische Karriere war in meinem Kopf nicht vorgesehen, wie das vielleicht bei jemand vorkommt, dessen Eltern studiert haben, wo man weiß, der geht studieren. Vielleicht kann man sich das als Lebensentwurf gar nicht vorstellen, das dass für einen in Frage kommt, wenn man das gar nicht kennt. Mein Vater war Feuerwehrmann und hat viel auf dem Bau als Gipser gearbeitet und meine Mutter war immer im Büro. Auch keine Lebensentwürfe wo ich sage „ey voll geil“. Aber ich meine, was mache ich heute? (lacht) Ich sitze am Schreibtisch. Bin natürlich Reporter, das ist schon Zugang zu einer anderen Welt. Aber ich habe mir mit dem Industrieklettern auch nochmal einen Beruf gesucht, wo ich auf dem Bau bin. Was mir persönlich, für meinen Seelenfrieden, auch voll wichtig ist, das ich da den Bezug zum „echten“ Leben habe. Ganz komisch wie sowas wirkt. Vielleicht bin ich da selber auch zu krass limitiert.

Für so Leute wie meine Eltern ist mein Leben natürlich komplett unverständlich. (Verstellt die Stimme) „Was machst du denn alles?“ Alles mögliche.

Vielfalltag: Der Berliner Kulturbetrieb – ist es ein Ziel von dir, deinen Namen, fernab von der Hip Hop Kultur, noch bekannter zu machen?

Marcus Staiger: Es ist jetzt kein Ziel, aber es ist wiederum so, dass ich den Schritt mit Absicht vollzogen habe. Raus aus der Hip Hop-Ecke, nach rap.de.

Ich machte das mit meinem Klettern, probierte es als freier Journalist. Was ja super funktioniert hat, eben auch durch diese ökonomische Unabhängigkeit von der Schreiberei, durch das Industrieklettern. Das ging super Hand in Hand. Ich habe nichts auf Biegen und Brechen machen müssen, ich habe Storys gemacht, die mir Spaß gemacht haben. Klar, möchte ich gerne, dass ich auch außerhalb der Hip Hop Szene wahrgenommen werde, weil ich eitel bin und weil ich denke, dass das wichtig ist was ich denke oder zu sagen habe. Vor allem ist es mir halt wichtig, dass was ich in dieser Hip Hop Szene gelernt habe, in andere Teile der Gesellschaft zu tragen, weil ich glaube, das ist das tolle an Hip Hop, es sprechen sehr unterschiedliche Gesellschaftsschichten miteinander. Auch wenn sie sich teilweise nicht leiden können, oder voneinander abgrenzen. Aber Hip Hop ist doch eine Kultur, in der auch durch die Masse an Text, viel darüber zu reden ist. Und wenn jetzt irgendwelche gymnasialen Oberstufenschüler Haftbefehl hören, bekommen sie ja doch was mit von der anderen Welt, selbst wenn sie es nur als Witz verarbeiten oder zum Spaß auf ihrer Party laufen lassen. Aber es ist trotzdem ein Einblick in eine andere Welt. Auch jemand wie Cro liefert mir wiederum einen Einblick in die Welt eines heute 18/19/20 jährigen. Ich könnte den natürlich scheiße finden, aber ich sehe es auch als Informationsquelle, als Stimmungsbarometer – was wird gerade diskutiert, wie ist gerade die Gefühlslage. Hip Hop ist ein guter Seismograph der Gesellschaft. Und ich finde die Art und Weise sich mit Hip Hop, und durch Hip Hop, die Welt anzugucken ganz cool.

Also es ist ein relativ ungeschminkter Blick auf die Verhältnisse wie sie sind.

Gerade wenn ein Rapper gut ist, assoziiert er gerne mal das Kleine mit dem ganz Großen und das finde ich eine interessante Vorgehensweise. Auch die Sample-Technik. Sich aus allen möglichen Lebensbereichen/Musikbereichen zu bedienen und das dann wieder zu verarbeiten und auszuspucken. Und deswegen finde ich „Die Hoffnung ist ein Hundesohn“, auch wenn es auf den ersten Blick kein Hip Hop-Roman ist, eindeutig als  einen Hip Hop-Roman. Von der Art der Herangehensweise, von der Art der Betrachtung, von der Art und Weise wie man reingeht in die Persönlichkeiten. Ob das jetzt geglückt ist oder nicht, sei dahingestellt. Da gibt es verschiedene Ansichten. Auch das ich halt ganz viele Kleinigkeiten verarbeitet habe, die wie kleine Soundschnipsel sind , die ich dann wiedererkenne – manchmal etwas größere, wo man sie eindeutig wiedererkennt, manchmal ganz kleine, die nur ich erkenne, weil ich sie gesammelt habe. So Pete Rock mäßig: „oh guck mal die Snare habe ich da und da gefunden“, und keiner erkennt es, aber man selbst weiß es. (lacht)

Vielfalltag: Und letztendlich muss es wirklich nur dich glücklich machen, oder?

Marcus Staiger: Das sowieso als Künstler. Das ist das wichtigste. Ich habe einen Roman geschrieben wo ich mir dachte: das würde ich halt gerne lesen. Ich wollte nicht den 150. „ich stehe in Berlin im Club und mache intelligente, lustige sarkastische Bemerkungen“-Roman schreiben. Ich wollte schon was schreiben, was richtig ausgedacht war, was eine richtige Story beinhaltet, was auf einen Höhepunkt zusteuert und was ein Ende hat, das wollte ich schon machen.

Vielfalltag: Stefan, eine Figur im Buch, ist zu Beginn des Romans in seinem Westberlin unterwegs, und erinnert sich: „Über mir hat Christiane F. unterm Mercedesstern in die Berliner Nachtluft geschrien.“ Hast du das Buch gelesen oder den Film gesehen? Hat es eine anhaltende Wirkung auf dich?

Marcus Staiger: Ich habe zuerst das Buch gelesen. Den Film habe ich dann auch gesehen, den fand ich jetzt gar nicht so beeindruckend. Das Buch hat mich beindruckt. Und zwar wegen einer ganz unbedeutenden Szene. Und zwar wird da beschrieben, wie die Kinder in diesen Hochhäusern leben. Die kleinen Kinder hatten immer einen Kochlöffel dabei, weil sie die oberen Knöpfe im Fahrstuhl nicht erreicht haben, wenn sie ganz oben gewohnt haben. Und wenn die pullern mussten, mussten sie ja hochfahren in ihre Wohnung. Und die älteren Kinder haben den kleinen Kindern die Kochlöffel oft weggenommen und dann haben sie im Fahrstuhl eingepullert, weil sie ja nicht hochgekommen sind. Und diese Geschichte fand ich so roh, und auch so gemein. Ich hatte richtig Angst vor so Hochhaussiedlungen. Ich dachte, wenn du in so einer Siedlung aufwächst, wirst du automatisch Junkie. Diese Art der Herzlosigkeit, dass hat mich schwer beeindruckt und nachhaltig verstört. Ich glaube, ich habe es auch sehr jung gelesen, so mit 12/13. Das fand ich schlimm, das Schicksal von dem Mädchen.

Vielfalltag: „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ zählt zu den einprägsamen Momenten Berliner Kulturgeschichte. Aber auch Großprojekte wie die Dokumentation „24h Berlin“,  oder jüngst Filme wie „Berlin Calling“ und „Oh Boy“. Was sind  Ereignisse, wenn es um Kultur in Berlin geht, die dich beeindruckt oder gar geprägt haben? Oder bietet dir das Leben in Berlin genug Momente, dass du Kultur, die die Hauptstadt, in welcher Form auch immer thematisieren, gar nicht interessant findest?

Marcus Staiger: Berlin Calling und Oh Boy habe ich nicht gesehen, ich bin leider kein Cineast. Ein paar Sachen der Berliner Kultur kommen im Buch ja vor, was in anderen deutschen Städten gar nicht so funktioniert. Dieses Bar- und Nachtleben. Für mich ist das ja hier gelebter Alltag, und insofern fallen einem manche Sachen, die vielleicht besonders für andere Leute sind, gar nicht so sehr auf. Das letzte kulturelle Großereignis, was wirklich nachhaltig Eindruck  auf mich gemacht hat, war wirklich die Reichstagsverhüllung 1995. Aber eigentlich nur deshalb, weil wir genau gegenüber von der Reichstagsverhüllung einmal die Woche so eine illegale Bar veranstaltet haben. Wir hatten einen alten Ford Transit zur Bar umfunktioniert. Heckklappe auf, Bar raus, Getränke ausgeschenkt, Longdrinks vier Mark, Strom von der Baustelle geklaut, und dann bisschen Soul-Mucke aufgelegt. Das war ein Berliner Kultur-Ereignis das ich dann persönlich ausgenutzt, gesehen und erlebt habe. Ansonsten war ich noch nie im Reichstag in der Kuppel, da geht man nicht hin, höchstens als Tourist. Ich war auch noch nie im Holocaust-Mahnmal. Ich habe mal ne Zeit lang als Stadtführer gearbeitet, bei den Bussen, aber das ist auch schon ewig her. Ich gehe an Silvester nicht zum Brandenburger Tor. Zur Fanmeile gehe ich auch nicht. Alles so Sachen die mich nicht interessieren. Insofern hast du Recht, der Alltag liefert genug Stoff. Man übersieht sowas vollkommen. Klasse ist natürlich, dass man immer was geboten bekommt.

Vielfalltag: Im Buch spielt Musik höchstens eine Nebenrolle, gibt es denn einen Soundtrack zum Schreibprozess von „Die Hoffnung ist ein Hundesohn“? Hast du wiederholt Musik gehört, die dir die Schreibarbeit hat angenehmer werden lassen? Oder bist du auch in der Lage, wenn nebenher nur Worte auf Inforadio zu hören sind, selbst Worte schreiben zu können?

Marcus Staiger: Nein, Ich bin da auch empfindlich. Und kann nicht gut in der Öffentlichkeit schreiben wenn da jemand quatscht. Da bin ich sehr empfindlich. Also ich kann in der Öffentlichkeit schreiben, weil es mir egal ist wo ich bin. Hauptsache mein Laptop ist da, der Laptop ist der Ort um dem sich alles dreht, absolut wichtig. Den brauche ich, er ist der Bezugspunkt. Ich sitze gerne am Laptop. Ich schreibe gerne, aber ich brauche schon meine Ruhe. Ich brauche vor allem auch die Stimmung davor, und danach.

Vielfalltag: Was ist denn die Stimmung danach?

Marcus Staiger: Es ist tatsächlich ein körperlicher Prozess. Ich bin manchmal so ein bisschen verschwitzt wenn ich fertig bin mit schreiben. Es ist etwas, was einen ganz ausfüllen kann.

Dadurch, dass ich Musik auch so arbeitsmäßig betreibe und betrieben habe, bin ich tatsächlich nicht so der Musik-Hörer. Dadurch, dass ich immer noch halbberuflich damit zu tun habe, ordne und sortiere ich das immer noch ein. Sowas wie Johnny Cash oder Nick Cave ist wirklich Musik die ich mag, und welche ich dann auch vollkommen losgelöst, von irgendwelchen Verwertungsgedanken, höre. Aber das ist ja jetzt auch nicht der Soundtrack zu diesem Buch gewesen.

Vielfalltag: Welchem Rapper würdest du es zutrauen, das er den Stoff, von Die Hoffnung ist ein Hundesohn, gut in Lieder umsetzen kann?

Marcus Staiger: Dadurch, dass es sehr, sehr unterschiedliche Leute sind in dem Buch, müsste man es vielleicht auch auf unterschiedliche Rapper verteilen. Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, deshalb antworte ich mal intuitiv: Jemand wie Bushido könnte einen Teil davon vertonen. Wobei ich jetzt finde, dass das überhaupt gar nicht so das geile Kompliment für mich ist, weil ich Bushido von seinem Rap her relativ einfach finde.(lacht) Aber das was er macht, bringt er halt gut rüber. KIZ könnten einen Teil übernehmen, weil sie dieses Rollenspiel sehr gut drauf haben. Hiob & Morlockk Dilemma könnten was machen. Obwohl ich ihr letztes Album nicht so heiß fand, aber von der Radikalität und Ekelhaftigkeit könnten sie das cool rüberbringen. Zugezogen Maskulin – aber das liegt an meiner engen Bindung zu Grim104. Er mochte das Buch, er hat mich unterstützt, und hat gesagt er findet es voll geil, schreib weiter. Als ich das Buch zu ¾ fertig hatte, habe ich es an ihn rausgegeben und habe ihn gefragt: Ganz ehrlich, wie findest du es so, interessiert sowas überhaupt? Soll ich es fertig schreiben? Und er meinte: ja unbedingt fertig schreiben! Aber gut, das sind alles so Leute aus meinem Umfeld. MOR könnten das auch ganz geil machen. Taktloss. (lacht)

Vielfalltag: Ich hätte noch an Prinz Pi gedacht.

Marcus Staiger: Prinz Pi ist schwierig, weil ich das halt nicht so heiß finde, was er zur Zeit so macht. Bei Kompass ohne Norden muss ich sagen, dsas ist ein total verrücktes Album. Das kreist ja eigentlich nur um Pubertätsthemen. Das ist ja wirklich so ein Rückschaualbum, die goldene Jugendzeit, so richtig Adoleszenz. Und da ist das Buch ja schon ein bisschen darüber hinaus. Es beschäftigt sich jetzt nicht mit Schülerthemen. Es ist ja dann doch eher Studentenzeit. Aber vielleicht kommt das ja dann beim nächsten Prinz Pi Album. Vielleicht beschäftigt er sich dann mit seiner Studienzeit, nachdem er seine Jugend abgearbeitet hat. (lacht)

Vielfalltag: Du hattest ja jetzt eine Reihe von Lesungen, wo ist der Unterschied  zum Staiger, der dabei war, wenn seine Royalbunker-Jungs auf der Bühne standen. Und bist du alleine unterwegs?

Marcus Staiger: Ich bin alleine unterwegs. Ich bin froh, dass ich nur mich selbst koordinieren muss. Es macht keinen Sinn da noch jemanden mitzunehmen. Klar, natürlich sind Lesungen zu zweit auch ganz geil, aber es funktioniert eben alleine. Das freut mich natürlich wahnsinnig. Das ist auch der Unterschied zum Staiger, der bei Royalbunker dabei war und die Rolle des Organisators übernommen hat. Die Rolle habe ich zwangsweiße übernommen, weil ich halt nicht so gut rappen kann. Ich habe das auch gerne gemacht, vor allem diese Öffentlichkeitsarbeit. Dieses Gesamtkunstwerk Royalbunker habe ich geliebt. Aber ich war nicht dieser Businessman, unter dem mich alle auch immer gesehen haben. Das war ich nie. Und ich war dann auch immer ein Stück weit fremd in der Rolle. Und das bin ich halt jetzt nicht. Ich hatte vor der allerersten Lesung hier in Berlin wirklich ein bisschen Schiss, und es war halt anders als sonst. Normalerweise stehe ich auf der Bühne, moderiere irgendjemand an, und dann präsentiert der seine Seele. Und jetzt präsentiere ich mich. Ich mach mich nackig. Und natürlich hatte ich davor Schiss. Aber das ging relativ schnell vorbei. Und ich dachte mir, es kann nur scheiße werden, wenn ich es selber anzweifle. Ich zweifle da aber nicht. Und ich verlasse mich auch auf den Text. Auch wenn ich 1000 Kleinigkeiten immer noch daran auszusetzen hätte und noch immer daran rumarbeiten würde. Was man halt irgendwann auch mal sein lassen muss, spätestens wenn es gedruckt ist.

Ich verlasse mich auf den Text, und es funktioniert tatsächlich. Irgendwo ist da sowas in mir passiert, dass sich  zusammengefügt hat, was schon immer zusammengehört hat. Ein schöner Prozess für mich – ganz werden.

Vielfalltag: Hast du denn Angst vor Kritikern?

Marcus Staiger: Man möchte sich immer gleich rechtfertigen. (Verstellt die Stimme) „ja der Jedele warum hat der so kurze Sätze!“ Dann möchte ich sofort sagen: ja der Jedele denkt ja so, und jeder hat so seine eigene Sprache, und deshalb ist das mit Absicht so.

Egal ist einem das halt nicht. In der Melodie & Rhythmus erscheint ein Artikel, in dem steht, dass zu viele überflüssige Sexszenen im Buch sind. Dann möchte ich natürlich sofort einspringen. Aber so ist es halt. Man gibt ja auch Sachen raus, dann ist es halt so. Und ich bin ja auch niemanden böse der es nicht mag oder langweilig findet. Ich bin natürlich über jeden froh, der es nicht langweilig findet, und der es gerne gelesen hat. Aber im Endeffekt stellt man was raus, und dann muss man damit leben, das es halt bewertet wird. Ich finde das nicht schlimm. Ich war lange genug Kritiker, und habe das immer eingefordert von den Künstlern, und so sehe ich das halt auch wirklich. Das hat ja auch nichts mit mir persönlich zu tun wenn das jemand total scheiße findet. Dann fühle ich mich ja als Person nicht angegriffen. Man will es ja auch gut machen, man will es ja vielleicht auch besser machen. Deshalb will ich natürlich auch immer wissen was genau schief gelaufen ist.

Vielfalltag: War es denn ein Prozess des dicken Fell wachsen lassen, der Kritik gegenüber?

Marcus Staiger: Es ist ja jetzt schon seid Jahren so, seitdem bekannter wurde was ich mache, dass das auch kritisiert wird. Ich habe ein paar entscheidende Lektionen gelernt, nämlich als es mit Royalbunker bergab ging. Das war so vor dieser Streetoffensive die wir ja nochmal gemacht haben. In Zuge dessen die KIZ-Tour. Das waren ja die bekanntesten, die daraus erwachsen sind. Und kurz davor war ich auf einer der letzten Popkomm, und dann wurde mir bescheinigt: „Ja, ja Staiger du bist wie Schröder, du redest immer nur von früher.“ Also es wurde mir bedeutet, das ist unwichtig was wir machen. Mir wurde gesagt: „Aggro hat euch längst abgehängt und das was ihr macht ist kompletter Schwachsinn. Vielleicht warst du früher mal wichtig, aber jetzt bist du halt gar nicht mehr wichtig.“ Und wirklich original die selben Leute, nachdem das mit KIZ so gut funktioniert hat, rufen an und sagen: „Ey, geil, wenn ich‘s einem gönne dann dir, super Erfolg“ Und da merkte ich, es ist halt sehr, sehr relativ. Im Endeffekt versuchen wir halt eine Rolle zu spielen, und die so gut zu spielen wie es geht. Aber mit mir, als spiritueller Einheit, hat das nicht wirklich viel zu tun. Ich versuche so gerade wie möglich dieses Leben zu leben. Ich glaube auch immer, dass ich‘s so gut mache, wie ich kann. Ich möchte es so gut und allgemeinverträglich machen wie es geht.

Vielfalltag: Der Gedanke reicht ja schon.

Marcus Staiger: Naja, oft ist ja auch das Gegenteil von gut, gut gemeint. Aber mit den Informationen, die einem zum jeweiligen Zeitpunkt zur Verfügung stehen, versuche ich das Beste zu machen. Wenn ich andere Sachen gewusst hätte, hätte ich es vielleicht anders gemacht. Aber da ich es nicht anders gewusst habe, habe ich es so gemacht, wie es war. Und deshalb war es auch immer okay. Es gibt ganz, ganz, wenige Sachen die ich bereue. Fast wirklich gar keine. Also nicht mal, okay, das ist unheimlich privat, aber ich habe meine Ex-Frau verlassen. Der Vorgang an sich – den bedauere ich zutiefst. Das war wirklich ganz schlimm für sie. Aber das es überhaupt passiert ist, dass ist nicht schlimm. Das war gut. Das war gut für uns beide.

Ich glaube auch an diese Übereinstimmung, das man sagt: okay, mit dem was ich tue, mit dem was ich bin, bin ich so einverstanden. Weil das auch dem nahe kommt was ich mir so wünsche und vorstelle. Bei ganz vielen Leuten driftet das ja auseinander. Wieviel Leute triffst du die sagen: Ich mache das gerne was ich mache. 80% der Leute sagen: Mein Job ist voll Kacke, aber irgendwo muss die Kohle ja herkommen, deshalb mache ich das – eigentlich möchte ich ja viel lieber da und da sein.

Ich habe viel mit Flüchtlingen zu tun gehabt. Da kann ich nicht immer sagen, dass diese Leute dort sind, wo sie eigentlich sein wollen. Weil ich oft sage man ist immer dort, wo man sein möchte. Und die sind es definitiv nicht. Weil sie vom Staat teilweise gehindert werden, dort zu sein, wo sie sein möchten. Aber selbst diese Leute haben sich, unter Lebensgefahr und unter schwierigsten Bedingungen, auf den Weg gemacht um ihr Leben zu verändern. Und dann willst du mir erzählen dass, wenn du auf einer Insel leben möchtest, es nicht schaffst? Ha ha ha, also ich bitte dich. Dann gibt es Gründe warum du nicht auf der Insel leben möchtest oder warum du nicht auf der Insel bist. Dann akzeptiere diese Gründe. Und wenn diese Gründe scheiße sind, dann musst du an den Gründen halt was machen. Ich halte ja auch nichts von so Utopien. Ich finde unser Leben hier ist ja durchaus lebenswert. Wir müssen es halt auch lebenswert machen.

Vielfalltag: Welcher von den Charakteren ist denn an so einem Ort?

Marcus Staiger: Von denen ist keiner da. Am ehesten noch Atakan. Weil er wirklich das lebt, was er da lebt. Und auch in seiner Abgebrühtheit, die ja dann auch durchkommt. Kotsch ist tatsächlich nur eine Hülle. Stefan ist auf der Suche und wünscht sich dort zu sein, wo Atakan ist. Das ist ja auch das was so ein bisschen peinlich an ihm ist, dass er nicht dort ist. Die Sabine ist eigentlich ganz cool. Sie entwickelt sich dorthin. Dadurch dass sie es tatsächlich so hinnimmt, und versucht so integer wie möglich zu sein, schafft sie es am Ende tatsächlich, die echteste und die aufrichtigste zu sein. Ich mag sie schon ganz gerne. Sie Ist der Charakter den ich am Anfang vielleicht auch am flachsten fand, oder unbedeutend, der schnell in so eine Art Statistenrolle hätte abrutschen können. Sie ist sehr authentisch. Stefan ist ein netter Typ, aber er ist halt auch ein Waschlappen. Dieser Christoph ist auch erstmal ein cooler Typ, aber dann merkt man halt auch: Ihh, das ist alles nur so halb ernstgemeint, was er so sagt.

Vielfalltag: Warum ist im Buch kein Mann, welcher authentisch und cool ist?

Marcus Staiger: Weil ich da vielleicht schon auch die Seiten aufgeschrieben und ausgelebt habe, die ich an mir nicht so gerne mag. Und weil ich da Frauen manchmal für gerader halte, als die meisten Männer. Es kann natürlich auch sein, dass Frauen mir das nur vermittelt haben –  weil ich selber so geschwankt habe, oder unsicher war. Und das es deshalb, im Gegensatz zu mir, dann immer so geradlinig rüberkam. Dass sie genauso verwirrt, weich und inkonsequent sind. Aber ich habe Frauen dann doch immer als stärkere und authentischere Persönlichkeiten kennengelernt. Die Leute fragen mich ja immer wessen Charakter mir dann am ehesten entspricht und ich sag dann auch immer: ja Stefan halt. Aber nicht wegen dieser offensichtlichen Rolle als Journalist, sondern wegen dieser Unsicherheiten, dieser Unschlüssigkeit, die er so mit sich rumträgt. Da habe ich mich selber verewigt. Und dann sagen alle: Das merkt man dir ja gar nicht an. Ja klar, natürlich nicht. Man ist ja 24h mit sich alleine, da weiß man, das ist natürlich nicht die Persönlichkeit die andere in einem sehen, wo man sich natürlich auch gut präsentiert.

Vielfalltag: Gibt es jemand, der dich so sieht, wie Kotsch Kohl sieht, und andersrum?

Marcus Staiger: Das kann ich so nicht beurteilen. Ich habe dafür keine Antennen, und ich weiß wie es ist, wenn Leute das haben. Ich kann mir vorstellen, dass ich charismatisch auf andere wirke, und dass Leute gerne mit mir zusammen sind. Mich gerne auch als älteren Bruder, als Onkel, als Autorität akzeptieren. In Rapper-Kreisen ist das ja auch oft so, das der Rapper kommt und seinen Hofstaat um sich hat. Leute, die diesen Hofstaat um sich haben, merken das, und nutzen das aus. Vielleicht nicht bewusst. Aber sie suchen sich dann auch solche Leute. Und ich bin nie auf der Suche nach solchen Leuten gewesen. Und ich habe auch niemanden um mich herum. Ich bin halt gern mit selbstständigen Leuten unterwegs. Wie gesagt, mir würde es wahrscheinlich auch nicht auffallen. Und wenn es mir auffallen würde, wäre es mir wahrscheinlich dann eher unangenehm. Leute die zu meinen Füßen sitzen und meine Worte niederschreiben, die ich so ab und zu mal fallen lasse, sind keine Gesellschaft nach der ich suche. Aber es gibt solche Leute, oft genug erlebt. Aber nach denen suche ich nicht, und deshalb habe ich sie nicht.

Vielfalltag: Ich könnte mir vorstellen, da du ein selbstbewusstes Auftreten hast, und dein Ding durchziehst, wie du es durchziehst, dass es Leute gibt, die dich darum beneiden.

Marcus Staiger: Das lustige war, ich hatte gerade gestern Abend so ein Gespräch, wo mich derjenige gefragt hat: Wie wird man so furchtlos wie du? Vielleicht sollte ich so Lebensberater werden. Oder ein Esoterik-Buch schreiben. (lacht) Das Ding ist halt, ich bin ja sogar so drauf, dass ich Menschen auch alle möglichen Schwächen verzeihe. Ich würde von niemanden verlangen, dass er sich so ins Feuer stellt, wie ich das gerne mache. Aus irgendeinem Grund, gibt mir das wahrscheinlich auch was, deshalb mache ich es. Ich fühle mich gut damit. Leuten denen das halt vollkommen unangenehm ist, warum sollte ich die dazu überreden? Natürlich würde ich jedem raten Verantwortung für sein eigenes Leben zu übernehmen. Allerdings sehe ich auch, wie  doch auch immer wieder gesellschaftliche Einflüsse einen daran hindern, das tun zu können.

Vielfalltag: Die Roman-Protagonisten erleben Einschränkungen in ihrem Alltag. Erlebst du Einschränkungen im Alltag, von denen du denkst, dass sie nicht sein müssten?

Marcus Staiger: Bei mir ist es so, dass ich diese Einschränkungen relativ klar sehe, und bin mir dessen bewusst, dass man mit Kompromissen leben muss. Man kann es natürlich als absoluten Zwang empfinden, oder als Einsicht in das Notwendige. Ich könnte natürlich jetzt sagen: dieses Steuersystem macht mir immer wieder einen Strich durch die Rechnung. Ich bin ja mit ganz vielen Steuerschulden aus Royalbunker rausgegangen, und das verschleppt und verlagert sich noch ein Jahr, und dann kommt  es wieder. Und ich kann mir diese und jene Sachen nicht leisten. Aber da ich mir dieses und jenes eh gar nicht leisten will, ist es mir doch scheiß egal. Dann gibt’s halt Steuern, aber ich weiß dass man davon nicht stirbt, dass es dann nicht zu Ende ist. Richtig eingeschränkt ist es dann, wenn man sich die ganze Zeit darüber beschwert, und nichts daran ändert. Dadurch dass ich es erkenne, mich nicht beschwere, und im besten Fall was ändere wenn ich es kann, schränkt es mich nicht so wahnsinnig ein. Ich glaube halt wenn man auf diese Gesellschaft mehr oder weniger angewiesen ist und aufs Abstellgleis geschoben wird und einfach in den Teufelskreis von Arbeits- und Motivationslosigkeit gefangen ist, ist man stark eingeschränkt. Ich habe natürlich auch den Vorteil über ein gewisses Talent zu verfügen. Oder, das ist auch nicht unwichtig, ein nettes Äußeres zu haben, denn das ist immer hilfreich. Ich kann mich artikulieren. Ich habe einigermaßen gute Manieren. Ich habe viel gelernt in meinem Leben. Und es gibt natürlich Leute, die haben das nicht. Und die sind aussortiert, da sehe ich schon gesellschaftliche Schranken, die extrem schwer zu überwinden sind.

Eine radikale Einschränkung in diesem System ist natürlich, dass du Geld verdienen musst, um überhaupt an dieser Gesellschaft teilzunehmen. Hast du kein Geld, nimmst du hier nicht teil. Du kannst es dir natürlich schön reden und dir sagen: Hey Hartz4! Und machst  dann (zeigt hinter uns) da drüben Slackline, und hast ein erfülltes Leben, aber das stimmt halt nicht. An dieser Gesellschaft nimmst du tatsächlich nur aktiv teil, wenn du Marktteilnehmer bist. Das ist ein Beispiel für eine Schranke, die ich schon überwinden möchte. Ich hätte es schon gern, wenn die Menschen unabhängig davon, als Mensch sein könnten, und dann hätten wir auch eine viel interessantere und produktivere Gesellschaft. Also nicht monetär produktiv, sondern gesellschaftlich produktiv.

Ich sehe schon dass dieses System viele Leute kaputt macht. Oben und unten. Unten wenn sie ausgeschlossen sind, und oben wenn sie Jobs machen, die sie halt nicht mögen und ihre Kreativität vollkommen sinnlos verpulvern, für irgendeinen Quatsch, den kein Mensch braucht.

Vielfalltag: Wie siehst du denn in Anbetracht dessen, die Situation im Kulturbetrieb? Sind Musiker, Autoren, Künstler glücklich?

Marcus Staiger: Ich glaube es wird sehr unbefriedigend für einen selber, wenn man weiß, man macht das nächste Album oder Buch nur noch aus dem Grund, weil man Geld zum überleben braucht. Ich glaube Kunst ist schon  immer dann am geilsten, wenn man Kunst machen möchte. Aus dem Grund ist Musik und Kunst ein interessantes Phänomen. Weil die Leute machen es erstmal, und viele über längere Zeit, weil es ihnen eine Befriedigung gibt und nicht weil es sich verkaufen lässt. Vielleicht sogar befriedigender als so mancher erfolgreiche Künstler. Mir hat mal ein Rapper gesagt, ohne Witz: „Ich trete vor 10000 Leuten auf, und es gibt mir gar nichts.“ Und das ist schade, das ist wirklich schade, er lebt den Traum so vieler anderer, und lebt komplett an seinem Leben vorbei.

Es ist unheimlich schön wenn man gewerblich Kunst macht, und sich das Gefühl der Freude erhalten kann. Ich kann dir das nicht sagen wie das ist, wenn ich da in 15 Jahren immer noch alle zwei Wochen auf Lesung bin, und mich das nur noch ankotzt, weil ich es schon so oft gemacht habe. Aber ich finde, dann muss man es auch sein lassen. Gerade im Kunstbereich, dass muss einem Spaß machen. Und ich habe mit Royalbunker aufgehört, als es mir überwiegend keinen Spaß mehr gemacht hat. Es geht nicht darum das es tagtäglich 100% Fun sein muss was man da macht, aber es ist wichtig dass man da 70% Spaß dran hat.

Vielfalltag: Wann hattest du denn bei Royalbunker am meisten Spaß?

Marcus Staiger: Ganz am Anfang. An diesem Zeitpunkt wo es so richtig losging. Als wir noch Kassetten gemacht habe und gemerkt haben: OK, wir verkaufen da jetzt 400/500 Kassetten auf einmal. Das war schon die Zeit wo es richtig geil war. Wo wir zusammen auf Tour waren, im kleinen Auto.

So wie es jetzt ist, macht es mir ja auch am meisten Spaß. Man fährt raus. Trifft sich mit irgendwelchen Leuten, pennt bei irgendwelchen Leuten, weil es halt  einfach noch so auf der persönlichen Ebene ist. Stell man sich mal vor man verkauft mit seinen Lesungen 2000er-Hallen, und ist dann so im Kultur-Haus irgendwo. Dann kommt man erstmal an in der Stadt, geht dann ins Hotel, schlürft dann in dieses Kultur-Haus, macht da seine zwei Stunden Lesung und geht dann wieder ins Hotelzimmer. Das ist doch gar nicht mal so spannend. Spannend ist doch jetzt irgendwie so, dass sich die Leute freuen: „man ja, komm wir gehen Abendessen, dann die Lesung, und danach gehen wir feiern.“ Das ist doch perfekt. Aber das kann man wahrscheinlich auch nicht für immer konservieren, das ist halt so.

Wenn das jetzt größer und professioneller werden sollte, dann ist man ja mal an dem Punkt, wo es dann halt in normale Erwerbsarbeit umschlägt. Auch das kann sein. Das ist nichts wovor ich mich fürchte, aber ich glaube, dass ist halt eine andere Art von Spaß. Und so hat RoyalBunker natürlich auch Spaß gemacht. Mit KIZ war es auch voll lustig. Diese U-Bahn-Aktionen die wir durchgezogen haben, dass waren immer geile Momente. Es macht natürlich auch immer dann Spaß, wenn man merkt, andere Leute interessiert das was man macht.

Vielfalltag: Dort drüben findet ja die Yard5 Graffiti Jam statt, wie stehst du zu Graffiti? Nimmst du Graffiti im Alltag wahr?

Marcus Staiger: Ja, ich nehme es wirklich wahr, und freue mich auch. Z.B. bin ich gestern mit meiner Frau und ihrem Sohn über die Stadtautobahn gefahren. Das ist mir neulich schon aufgefallen. Diese XL Crew die alles zugemacht hat. Die ganze Avus entlang, und den ganzen Innenstadtring. Auf jedem Autobahnschild war das drauf, das freut mich, das finde ich voll cool. Die 1UP Geschichten überall – riesengroß, alles kaputtgemacht, super Sachen. Ich finde es halt als Aneignung von öffentlichem Raum interessant. Dieses „Scheiß was drauf“ – Angriff aufs Privateigentum – gefällt mir. Es ist unsere Stadt – wenn Daimler Benz eine ganze Stadt in der Innenstadt bauen darf, dürfen wir das auch.

Vielfalltag: Du sagst „Wir“.

Marcus Staiger: Na klar, das Ding ist halt, ich sehe diese Hip Hop Leute  tatsächlich als eine große Familie, auch wenn sich das wahnsinnig auseinander dividiert hat. Ich habe ja Streit mit diversen Leuten aus dieser Szene. Ich sehe es  immer noch als Familienstreit. Das ist halt so, da streitet man sich auch verbittert und man kann gewisse Verwandte auch nicht leiden, aber man geht z.B. nicht zur Polizei. Also auch mit Abstrichen, ich bin jetzt nicht der Verfechter dieser „stop snitchin“ Geschichte. Ich würde auch zur Polizei gehen, ich habe damit nicht das Problem. Aber erstmal sehe ich es als Familienstreitigkeit.

Graffiti gehört auch zu mir dazu, auch wenn ich kaum Ahnung davon habe und es selbst gar nicht kann. Na gut, aber da bin ich halt auch old school. (lacht)

Vielfalltag: Macht es dir denn überhaupt noch Spaß über das Buch zu reden?

Marcus Staiger: Ja, sehr viel Spaß, jeder zieht was ganz anderes daraus. Ich rede auch nicht immer dasselbe. Klar, manche Sachen wiederholen sich, aber es macht mir sehr viel spaß.

Vielfalltag: Dann die nächste Frage, wie siehst du das Thema Zeitlosigkeit? Gibt es Bücher die zeitlos für dich sind? Was zeichnet solche zeitlosen Werke aus?

Marcus Staiger: Was das auszeichnet kann ich dir gar nicht sagen, ich kann dir sagen das die Bücher die ich wirklich wichtig fand in meinem Leben, wahrscheinlich schon zeitlos sind. Also ich mochte  Uwe Johnsen, das war ein DDR-Schriftsteller. Was jetzt ein bisschen Einfluss auf mein Schreiben hatte war Rainald Götz „Irre“. Das ist noch zersplitterter als mein Roman, durch seine fragmentarische Erzählweise. Der hatte auch diesen Stil drauf, dass er jeder Person eine eigene Stimme gegeben hat und dass man die auch sofort sprechen gehört hat. Gabriel García Márquez „100 Jahre Einsamkeit“ oder „Chronik eines angekündigten Todes“, das sind so Sachen die durch ihre Art und Erzählweise sehr zeitlos sind. Wahrscheinlich ist sowas wie Benjamin von Stuckrad-Barre heute total irrelevant, wenn man da ein Buch von vor 10 Jahren liest.

Es ist jetzt schon ein bisschen Zeit vergangen seid der Fertigstellung des Rohmanuskripts von „Die Hoffnung ist ein Hundesohn“. Das verrückte daran ist ja wirklich, das es unglaublich aktuelle Bezüge hat. Das wird wahrscheinlich gar nicht anders werden in den nächsten zehn Jahren – ich glaube es wird immer wieder aktuell sein. Es werden wahrscheinlich genau die selben Themen immer und immer wiederkehren. Also wäre es vor zwei Jahren rausgekommen, hätte man gesagt: „waow, geil, diese Londoner Aufstände, hast du das antizipiert?“ Nein habe ich nicht. Aber ich habe mir vorgestellt dass sowas passieren kann, in einer Welt wie wir sie heute haben. Jetzt haben die Leute sogar die Krim-Krise reininterpretiert, mit den Panzern und dem Drohnen-Konflikt. NSA-Affäre sowieso – abhören, totale Überwachung, dabei war damals davon noch gar nicht die Rede.

[SPOILER]

Es ist verrückt. Im Buch geht ein Nazi los, tötet zufallsgenerator-mäßig Ausländer und wird gleichzeitig vom Verfassungsschutz – also wirklich ausdrücklich vom Verfassungsschutz – beobachtet. Sie haben ihn seid Jahren unter Beobachtung, seid er in einer Wehrsportgruppe tätig war, und heuern ihn zum Schluss auch noch an. Das ist im Zuge der NSU-Affäre wirklich erschreckend.

[SPOILER-ENDE]

Diese Verfassungsschutz-Leute habe ich extra so angelegt, als wären sie wirklich graue, gesichtslose Herren. Oder wie aus diesem Tim und Struppi Comic, diese Agenten Schulze und Schultze. Bei mir heißen sie Müller und Maier, sind komplett austauschbar – graue, gesichtslose Herren. Das hat eine verrückte, abstrakte Dimension. Das war angelegt, als wäre das ein komplettes Fantasieprodukt – und das passiert tatsächlich, das gibt es wirklich.

Vielfalltag: Ich hatte das Gefühl, das du Charaktere verarbeitet hast, die dich im Leben nerven könnten, die man aushalten muss. Bist du gut im Aushalten? Auch im Konflikte aushalten?

Marcus Staiger: Ja klar, jemand wie Jedele ist schwer aushaltbar, ist halt ein Arschloch. Aber die trifft man, wenn man in verschiedenen Welten unterwegs ist, alle.

Ich kann Konflikte sehr gut aushalten. Wenn ich einen Konflikt anfange, dann kann ich es auch aushalten. Das können viele nicht. Sowas wie aktuell mit Fard & Snaga, also ich halte das aus, die nicht. Und ich mache das auch immer weiter. Das wird wahrscheinlich irgendwann mal einschlafen. Die werden ihren Senf dazugeben und sie  werden sagen mit mir sprechen sie nicht. Ich werde dann noch zwei, drei mal Sachen sagen. Man muss dann halt auch aufpassen das man nicht irgendwann mal gesagt bekommt: „jaja, ist ja gut, reicht ja jetzt, du nervst.“ Muss man dann dosieren, aber ich halte das schon aus. Ich halte auch die Dummheit anderer Leute aus. Ich bin natürlich immer davon beseelt die zu überzeugen. Ich möchte auch gewinnen. Aber das es gelingt, ist natürlich schwierig.

Aber ich merke oft, gerade wenn ich auf andere Handwerker treffe, welche ja dann doch nicht immer die fortschrittlichsten sind, dass Sie für gewisse Argumente empfänglich sind. Und wenn man immer nur mit scheiß Typen zusammen ist, dann kann man auch nur scheiße denken. Wenn man ihnen die Möglichkeit gibt, auch mal was anderes zu denken – jetzt abgesehen davon, dass ich damit schon in einer gewissen Eitelkeit unterstelle dass ich kein scheiß Typ bin – aber ich denke natürlich, dass meine fortschrittlichen Gedanken gut sind, und wenn man das so mitteilt, tut sich dann auch meistens was. Das ist ganz angenehm.

Vielfalltag: Du hast Philosophie studiert, wo es um Ethik und Moral geht, war das für dich interessant?

Marcus Staiger: Ich fand Ethik tatsächlich total uninteressant. Ich habe es mal ein Semester lang studiert. Was ein bisschen verrückt ist, da es noch heute eine Rolle für mich spielt, ist, dass ich  mich schon damals mit bürgerlicher Gesellschaftstheorie beschäftigt habe. Vertragswesen von menschlichen Gemeinschaften.

Ich finde das Moral und Ethik ganz schwammige Werte sind, und immer sehr stark von den Lebensumständen der Leute abhängen. Z.B. sowas hart umstrittenes wie Sex mit Kindern. Vor 150 Jahren war das auch in Mitteleuropa gang und gäbe, dass 12, 13 jährige Mädchen auf den Strich gegangen sind und sowas ausgelebt wurde. Auch heute ist diese Diskussion sehr, sehr heuchlerisch, weil auf der einen Seite die dargestellten Frauen in Werbung und Film immer jugendlicher werden, und auf der anderen Seite ist es ein super Tabu-Thema, wo jeder sagen darf: das ist eklig. Und in anderen Kulturkreisen heiratet man wiederum 10/11 jährige. Teilweise sind sogar die Leute, die Todesstrafe für Kinderschänder fordern,  Anverwandte von denen, die dann 10/11 jährige heiraten.

Ich habe selber eine Tochter, ich finde, dass ein Jugendlicher das Recht hat seine Sexualität jugendlich kennenzulernen. Und ich finde es absolut bescheuert, wenn ein Erwachsener, etwas mit einer 12 jährigen anfängt. Denn das sind sehr unterschiedliche Welten. Und selbst wenn die 12 jährige sowas wie eine Sexualität hat, dann hat das nichts mit einer erwachsenen Sexualität zu tun. Was ich damit sagen will ist, es ist sehr variabel. Z.B. in puncto Gesellschaftsgerechtigkeit ist es immer vom Gutwill der herrschenden Klasse abhängig. Was wir jetzt z.B. als Sozialstaat haben, war in den 1970er Jahren viel mehr. Jetzt heißt es plötzlich, wir können uns das nicht mehr leisten. Wer bestimmt denn das, dass wir uns das nicht mehr leisten können? Welche Moral und Ethik steht denn da dahinter? Nämlich gar keine. Und deshalb bin ich gar nicht so sehr daran interessiert die Dinge ethisch und moralisch zu lösen, sondern auf einer Vertragsebene – auf was einigen wir uns denn jetzt eigentlich?

Um auf die Kindersexualität zurück zu kommen: ich sage ich habe Argumente dafür, warum ich finde, dass Erwachsene nichts mit Kindern anfangen sollten. Das wäre aber eher eine Einigung. Und nicht weil Gott das verboten hat oder weil das nicht meinem gesunden Volksempfinden entspricht. Anderes Land, andere Sitten.

Oder z.B. die Einigung darauf keine Ausbeutung stattfinden zu lassen – das hat natürlich einen tieferen moralischen Wunsch nach Gerechtigkeit und vielleicht ist das sogar christlich verankert. Aber trotzdem wäre es mir lieber, wir machen das nicht, weil sich das so gehört, sondern, weil wir uns darauf geeinigt haben.

Ich habe damals tatsächlich schon einen Lektüre-Kurs Marx besucht. Und das kam ja jetzt auch verstärkt wieder, weil ich Marx Literatur als ein wahnsinnig gutes Instrumentarium für die Gesellschaft, ihre Verhältnisse und ihre Produktionsweise zu durchschauen, finde. Auf der anderen Seite war mir das, und das ist auch heute noch so, bei den Philosophen zu linguistisch. Da wird dann um Worte gestritten, um gewisse Bedeutungsnuancen. Natürlich muss man sich um eine einigermaßen exakte Sprache bemühen. Aber im Endeffekt werden wir niemals das Selbe meinen, wenn wir das Selbe aussprechen. Und mit einer gewissen Unschärfe kann ich persönlich auch leben, und das können manche von diesen Linguisten-Philosophen eben nicht. Deshalb ist das dann auch uninteressant.

Vielfalltag: Was passiert noch bei dir, wenn du nach Hause kommst? Was steht an?

Marcus Staiger: Wenn ich nach Hause fahre, setze ich mich an den Computer, weil ich noch drei Artikel fertig schreiben muss über das Wochenende. Man hat immer was zu tun. Ich bin Familienvater, auch. Das ist das gute, da ist einem nie langweilig. Nie wieder Langeweile. Immer zu wissen, dass man zu tun hat (lacht).

Neulich, weil das eben auch so ein bisschen ansteht, war das dann auch Thema: brauche ich ein Management & wohin will ich eigentlich? Klar, ich bin Schriftsteller, ich will Schriftseller sein. Das ist wahrscheinlich das was ich schon immer sein wollte seid ich 17/18 bin. Aber ich brauche das ganz andere auch. Ansonsten habe ich kein Material. Ich bin schon jemand der das Leben braucht in seiner Vielfalt.

Vielfalltag: Vorstellbar wäre aber auch, nur auf das zurückzugreifen, was sich in deinem Kopf abspielt, und die Frage ob das ausreicht.

Marcus Staiger: Ich scheibe wahnsinnig gerne Traumtagebuch. Manchmal ein bisschen weniger, wenn ich viel praktische Texte zu schreiben habe, dann wird das auch weniger mit dem Traumtagebuch. Aber wenn ich mich mehr darauf einlassen kann, mich mehr um meine innere Welt kümmern kann, dann mache ich das. Das ist sehr interessant, ich bin immer wieder fasziniert davon, wie verrückt man seinen Alltag verarbeitet. Ich habe auch schon von Hip Hopern geträumt. Ich hatte schon die verrücktesten Träume.

Die schreibe ich dann auf. Dem sofortige vergessen, nach dem aufwachen, kann man ein bisschen entgegentrainieren. Isabel Allende hat das gemacht, das habe ich mal in einem interview gelesen. Fand ich super die Idee, eine klasse Übung.

Vielfalltag: Vielen Dank für das Interview.

 

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