Blick ins Blatt - Peeing In The Shower Ausgabe 2

Ich bin mit Rap-Untergrundtapes groß geworden. Dadurch eröffneten sich mir mitunter Lebensweisen und -ansichten, die nicht herkömmlich waren.
Schön wäre, wenn sich durch das Hören von Musik das Leben besser durchschauen ließe. Ob diese Fähigkeit der Musik innewohnt, weiß ich nicht. Auf jeden Fall ließ sich
damals damit abgrenzen. Untergrund-Musik für Kenner*Innen-Kreise.
Genau wie es das vertonte Wort vermag, in eine eigene Welt mitzunehmen, liegt es in der Kraft des geschriebenen Wortes dies zu können. Und auch die Kraft der
Abgrenzung funktioniert mit dem geschriebenen Wort, wie ich an Hand des vorliegenden Untergrund-Heftes Peeing In The Shower erfahren durfte.
Kulturjournalismus als Teil dessen, woraus Insider*Innen-Wissen gemacht ist. Ein Ort wo anders und/oder weiter gedacht wird, wo sich ausgelebt wird.
Vom Untergrundtape zum Untergrundzine, wird man so erwachsen?
Zumindest wurde ich als Leser irgendwie wieder Fan von etwas.
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Dass ich, ohne auf der Suche zu sein, durch eine Insta-Story zu dem Magazin gekommen bin, es bestellt und mich überraschen habe lassen, ist sehr zeitgemäß
oder auch nicht (in Zeiten von Vergleichsportalen und endlosen Überlegungen vor Entscheidungen). Ich habe mit Texten gerechnet, die
erarbeitet werden müssen, mich überfordern. Doch stattdessen sind die Texte wie auf meinen Geschmack abgestimmt.

Wenn den Autor*Innen tatsächlich keine Vorgaben gemacht wurden, haben viele von ihnen ein gutes Gespür für
Knackigkeit. Niveauvoll und zugleich flüssig zu lesen, so verwöhnt man Leser*Innen. Was soll ich bitteschön kritisieren?
Es stellte sich das ein, wozu Kulturjournalismus im Stande sein kann: Ich will abklopfen ob das stimmt was da geschrieben steht, plötzlich will ich unbedingt
Friends und Miami Vice schauen, obwohl die Serien fernab meines Geschmacks sind (wobei ich das bei Miami Vice nach dem Lesen des Textes gar nicht mehr
sagen kann – müsste ich gucken).

Zeilen mit persönlichem Inhalt, wie von Joachim Hentschel über seine erste Band oder der Text von Sophie „Grüß Sie Gott“ Euler über ihre Tätigkeit
bei IKEA, reichen sich die Hände mit verspielten Sachen wie den
realen Rezensionen zu erfundenen Alben (die geneigten Review-Leser*Innen in ihrer Wahl der Formulierungen entlarvend, wie aus dem Besprechungs-Baukasten vorkommen
dürfte und gerade deshalb so gut funktionieren).

Der Text über den Zustand von Musikjournalismus und die Umstände derer, die ihn betreiben von Peeing in The Shower-Herausgeberin Melanie Gollin
ist schmerzhaft aber in seiner Offenlegung alternativlos. Gollin zitiert Norman
Fleischer der sagt: „Die Regeln sind außer Kraft gesetzt“. Zeit also, andere Kräfte freizusetzen. So geschehen mit Peeing In The Shower.

In diesem Heft darf unterhalten werden und zugleich ist niemand um Erkenntnisse verlegen. Und da überhaupt einfach gemacht werden darf was will, überträgt sich Freude
auf den/die Lesende/n. Selbst die Illustrationen, die mir in anderen Magazinen oft als nötiges Übel, als Beiwerk, das eben sein muss, erscheinen, passen einfach rein.
Was zeichnet eine gute Ausgabe aus? Sicherlich dass viele Texte der Ausgabe gelesen werden (wollen). Ich habe alle gelesen. Das bedeutet für mich, sie haben eine
gute Länge und sind nicht überladen.

Und auch wenn die Dusche der Toilette oft nah ist, fühlt sich Peeing in the Shower nicht wie Klolektüre an. Denn was man da in den Händen hält,
ist eher ein wertvoller aus dem Internet geborgener Schatz. Eben Stoff für Kenner*Innen.

Der Verzicht auf Seitenzahlen und Inhaltsverzeichnis unterstreicht das Abenteuer in das man sich gestürzt hat nur noch mehr. Gezahlt werden darf was
gezahlt werden möchte bzw. kann.

Als Leser wurde ich irgendwie wieder Fan von etwas. Ich glaube, ich bin der Idee verfallen, Autor*Innen einfach mal machen zu lassen, genauso wie
Rapper*Innen auf Untergrundtapes einfachen machen was sie wollen.

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Mehr Informationen auf: peeingintheshower.de

Es schrieb: Henry Berner